Samstag, 27. Oktober 2018

Was wurde aus Bartimäus? Recherchen und Phantasien zum Sonntagsevangelium

Seine Begegnung mit Jesus (Mk 10,45-52) ist eine der bekanntesten Heilungsgeschichten des Neuen Testaments geworden:
Am Rande der Straße nach Jericho sitzend hört der blinde Bettler Bartimäus, dass Jesus vorbeikommt und ruft nach ihm: "Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!" (v47) Entgegen dem Widerstand seiner Begleiter lässt Jesus ihn zu sich kommen und fragt ihn, was er will. Die gläubige Antwort "Ich möchte sehen können" (v51) führt zu seiner Heilung.
Anschließend heißt es: "und er folgte Jesus auf seinem Weg nach." (v52)

Doch dann verschwindet Bartimäus aus der Bibel. Zwar heißt es in den anschließenden Kapiteln bei Markus regelmäßig, dass Jesus mit den Jüngern und nicht nur mit "den Zwölf", also den namentlich bekannten Aposteln, unterwegs ist, aber Namen aus dieser größeren Gruppe tauchen nicht mehr auf.

Verlassenes Lager.
Hansaplatz, Berlin, 2018.
Vielleicht ist Bartimäus also mit Jesus bis nach Jerusalem gezogen, hat die Gleichnisse auf dem Weg gehört und die Konflikte mit den religiösen Autoritäten erlebt und war um ihn, als Jesus schließlich im Hause Simons des Aussätzigen von einer unbekannten Frau gesalbt wird (Mk 14,3ff).

Aber als Jesus sein Letztes Mahl einnimmt, ist nur noch die Rede von den Zwölf, also dem engsten Kreis, zu dem Bartimäus eben nicht gehört.

Andere Jünger tauchen erst wieder auf, als Jesus einige Tage später gekreuzigt wird. Dort ist jedenfalls die Rede von vielen Frauen, "die mit ihm nach Jerusalem hinaufgezogen waren." (15,41).
Das lässt darauf schließen, dass tatsächlich eine größere Gruppe von JesusanhängerInnen unterwegs gewesen ist, manche nur zeitweise, andere länger. 

Nach Jesu Tod wird außerdem ein Ratsherr namens Josef von Arimathäa erwähnt, der in Jerusalem ansässig ist und zugleich einer derer, die Jesu Reich-Gottes-Verkündigung glaubten (vgl. 15,43). Er lässt Jesus vom Kreuz nehmen und gehört augenscheinlich zur Gruppe der Sympathisanten, die weder dem engeren Jüngerkreis zuzurechnen sind, noch überhaupt mit Jesus herumzogen, sondern Jesus und seine Jünger (so wie auch der erwähnte Simon) auf andere Weise unterstützten.

Bartimäus seinerseits scheint der größeren Gruppe derer anzugehören, die mit Jesus gehen ohne konkret überlieferten Ruf in die Nachfolge. Es ist sein eigener Entschluss, der wohl aus seinem starken Glauben erwächst. Der brachte ihn ja auch dazu, Jesus als messianischen Königssohn zu bezeichnen und ihm die Heilung zuzutrauen. So brachte sein Glaube ihn wohl auch dazu, seine Heimat Jericho zu verlassen und sich dankbar an Jesus zu binden. 

Damit trat Bartimäus "in die Dienst- und Schicksalsgemeinschaft mit ihm im Zeichen der Gottesherrschaft"1 ein. Konkret: er nahm etwas auf sich, um bei Jesus zu sein – der Evangelist Markus sieht den weiteren Weg Jesu denn auch vor allem als Weg in Richtung Kreuzigung. Für seine Jünger war damit ebenfalls die Gefahr von Verfolgung oder Ausschluss aus anderen Zusammenhängen verbunden.

Doch Bartimäus, so stelle ich ihn mir als "Sehenden" vor, hatte das irgendwie auf dem Schirm. Und er entschied sich trotz dieser widrigen Aussichten dafür. Immerhin verdankte er Jesus sein neues Leben als Sehender. 

Möglicherweise hat er sein neues Sehvermögen auch für die anderen Jünger nutzbar gemacht.
Als einer, der achtsam auf die Belange der Gemeinschaft schaut.
Oder der auf die kleinen staunenswerten Momente des Alltags hinweist.
Der die Schönheit der Schöpfung wahrnimmt.
Der aus eigener Erfahrung auch die Armen im Blick behält.
Der eher das Licht am Ende eines Tunnels im Blick behält, als in den Schrecken vor der Dunkelheit einzustimmen.
Der auf neue Möglichkeiten aufmerksam macht.
Der mit seinen "Augen des Glaubens" (Pierre Rousselot) Hoffnung und Zuversicht verbreitet.

Solche Sehenden braucht jede Gemeinschaft, gerade wenn die Zukunft nicht rosig aussieht.

Kleine Freuden wahrnehmen.
Tiergarten, Berlin, 2018.

1   J. Roloff, Kirche im Spannungsfeld gestaltender Kräfte. Die Vielfalt von Bildern der Kirche im Urchristentum. In: Gemeindestrukturen im Neuen Testament (Bibel und Kirche 4/2001), 203-211, 204.