Freitag, 19. Oktober 2018

Schrei um Erbarmen. Gebet nach einem Tag im Gefängnis

Großer Gott,
selten ist mir danach, zu schreien und dich um Erbarmen anzurufen, wenn ich aus dem Gefängnis komme.

Aber heute ist so ein Tag, an dem ich nicht anders kann!
Was fährt in die Menschen, dass sie sich gegenseitig so fertigmachen? Warum muss es immer wieder bis kurz vor den Anschlag gehen? Warum zu oft darüber hinaus?

Schatten und Gitter und Schwarz und Weiß.
Neukölln, Berlin, 2015.
Kannst du die Spirale der Gewalt und des Bösen nicht einfach abknicken?
Denn da sitzen sie nun und wundern sich, wie es so weit kommen konnte. Hatten vorher keinen Blick für das, was ihr Tun auslösen kann und waren wie blind. Dazu vergaßen sie deine wichtigsten Gaben: Verstand und Herz und Gewissen!

Gott, jetzt rufe ich zu dir, jetzt, wo es schon zu spät ist.
Halte uns Menschen trotzdem aus!
Hab Erbarmen!
Befrei uns von unserem Stolz, von der blinden Wut, von der Raserei und dem Rausch des Rechthabenwollens!

Oft genug halte ich dir Menschen hin, die mir im Gefängnis begegnen – aber oft genug eben auch nicht.
Ich frage mich etwas zerknirscht: Bin ich als Seelsorger zu verständnisvoll gegenüber dem Schlechten? Sehe ich die Welt zu sehr aus der Perspektive der Täter? Sind sie bloß arme Würstchen?
Vergesse ich, als ihr Fürsprecher stellvertretend deine Vergebung und dein Verzeihen zu erflehen?

Heute komme ich nun zu dir und rufe:
Schau liebevoll auf die Menschen, trotz allem, trotz Zorn und Neid und Gewalt.
Heile die Wunden!
Und öffne deine Arme, dass alle deine Kinder, die besonders geschunden und die besonders arg schindenden, zu dir kommen können und bei dir Frieden und Ruhe finden.
Ich vertraue sie dir an.