Samstag, 20. Oktober 2018

Der Macht nahe sein? Enttäuschung auf ganzer Linie.

1.
Sie kennen das Gefühl wahrscheinlich und haben sicher auch schon das ein oder andere Mal zu hören bekommen, dass jemand sagt: Du bist eine Enttäuschung für mich.
Jemand hatte Erwartungen an Sie gestellt und sich etwas Schönes von Ihnen erhofft – und Sie haben versagt.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Berufsalltag:
An manchen Tagen im Gefängnis habe ich den Eindruck, dass ich nur enttäuschen kann.
So viele Leute fragen nach mir, möchten ein Gespräch führen, haben ein Anliegen oder eine Bitte.
Und wenn ich dann nur einen Arbeitstag lang da bin, muss ich viele der Fragenden und Bittenden auf später vertrösten – oftmals schon wissend, dass es in der nächsten Woche genauso eng werden könnte.
Kurz: Ich werde den Erwartungen einfach nicht gerecht, die man an mich als Seelsorger stellt.

Ausblick? Enttäuschung!
Weimar, 2015.
Wenn wir uns nun die Situation der Apostel Jakobus und Johannes im Evangelium des Sonntags (Mk 10,35-45) vor Augen führen, dann scheint es sich um eine Enttäuschung-Steilvorlage zu handeln: Sie wollen die besten Plätze neben Jesus. Ausgerechnet neben ihm, der sich nicht nach vorn drängelte und selbst keine besonderen Ehrungen für sich in Anspruch nahm. Von ihm verlangen sie nun eine bevorzugte Behandlung.

Hätten sie nur gefragt, ob sie auf ihren Wanderungen neben ihm gehen dürfen, wahrscheinlich wäre es keine so grundsätzliche Frage geworden. Aber in seinem Reich als die beiden Zweitwichtigsten neben ihm sitzen zu wollen, das ist schon etwas heftig. Sie scheinen zu hoffen, dass Jesu Herrschaft als Messias nicht ohne wichtige Ministerposten auskommt und dass sie würdig wären, diese zu besetzen.
Wenn man hart formuliert, könnte man sagen, dass sie während der ganzen Zeit mit Jesus in keinster Weise verstanden haben, worum es Jesus geht: sie wären also totale Versager und enttäuschen auf ganzer Linie. 

Wahrscheinlich sind Ehrgeiz und Stolz mit ihnen einfach durchgegangen, so wie uns das ja auch oft genug passiert. Wer möchte nicht gern mal im Schatten eines Mächtigen sitzen und so möglichst etwas von seiner Wichtigkeit abbekommen?
Konkret: Auch ich würde mich natürlich freuen, wenn die, die was zu sagen haben, ihre Termine mit mir einhalten und mich so in meinem Status bestätigen oder wenn ein Bischof in diese Haftanstalt käme und dadurch die Wichtigkeit meiner Arbeit zeigen würde.

Bin auch ich also ein Versager als Christ, wenn mir derartige Gedanken kommen?
Wahrscheinlich jedenfalls bin ich nicht besser als die Jünger und wahrscheinlich geht es fast alle Christen intuitiv ebenso: In der Nähe zur Macht zu sein, verheißt Sicherheit. Man muss schließlich vorsorgen und seine Schäfchen ins Trockene bringen. Sich möglichst unauffällig an anderen vorbei nach vorn schieben, wenn sich die Chance bietet, ist da eine sehr naheliegende Versuchung.

Aber wie verträgt sich diese Einstellung mit dem Kern des Christseins?

2
Entscheidend ist im konkreten Fall außerdem, wie der Enttäuschte mit denjenigen umgeht, die ihn enttäuscht haben.
Manche Eltern brechen den Kontakt ab, wenn der Sohn zum soundsovielten Mal im Gefängnis landet, weil sie es einfach nicht mehr aushalten. Manche Freundschaft zerbricht an der x-ten Lüge.
Auch von der Kirche sind derzeit viele Menschen enttäuscht und manche wenden sich für immer von ihr ab.
Dahinter immer die gleiche Frage: Haben die es denn immer noch nicht gelernt?

Jesus dagegen regt sich nicht auf, sondern wiegelt zweimal ab: zuerst fragt er, ob sie das auch aushalten würden, was mit einem Platz an seiner Seite zusammenhängt, dann weist er die Verantwortung weiter und betont, dass die Plätze von anderer Seite belegt werden (38-40).
Als er aber mitkriegt, wie es unter den restlichen Jüngern rumort, holt er noch einmal weiter aus und stellt die Strukturen der Welt denen der Jüngergemeinschaft gegenüber:
"Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen.
Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein." (vv42-44)

Historisch gesehen dürfte das ein Text sein, der erst nach dem Tod Jesu in den ersten Gemeinden ausformuliert und Jesus in den Mund gelegt wurde.
Aber die Haltung in diesen Sätzen ist die Haltung Jesu:

Viele Leute? Fehlanzeige.
Grünheide, 2016.
Die Christen und damit die Kirche(n) sollen eine Art Kontrapunkt zur Welt bilden und stattdessen Orte sein, wo es nicht um Macht, Einfluss, Anerkennung, Größe und Ehre geht.

Wer sich heute in der Kirche umschaut und das Gebaren mancher Kirchenoberen beobachtet, der weiß, dass dieser biblische Aufruf immer noch nötig ist und immer noch weitgehend ungehört verhallt.
Aber Jesus wählt damals und heute nicht den Beziehungsabbruch, der ja auch eine mögliche Konsequenz solchen Fragens uns Handelns seiner Jünger sein könnte, sondern er beweist Großmut.
Anstatt die Jünger fortzuschicken und sich wegen ihrer Unbelehrbarkeit von ihnen zu trennen, zeigt er ihnen (und uns) einen Weg.

Im Wesentlichen besteht dieser Weg darin, nicht vom eigenen Ego beherrscht zu werden, sondern es im Zaum zu halten.
Wahre Herrschaft im christlichen Sinne besteht darin, anderen zu dienen.

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Und dafür ist Jesus selbst das beste Beispiel.
Der letzte Satz des Evangeliums lautet dementsprechend: "der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele." (v45)

Hier liegt nun der Grund für die Enttäuschung vieler Menschen:
Eine solche Aussage ist ein Dämpfer für alle, die glauben, gegen den Islam müsse nun ein Christentum in Stellung gebracht werden, das mit klarer Kante zeigt, wo es eigentlich lang geht.
Dieser Satz ist enttäuschend für jene, die sich einen Chef mit harter Hand gewünscht hatten, oder einen, der viele Sonderposten und exklusive Aufgaben verteilen wird.
Sein Auftrag jedoch ist: Kümmert euch um einander, helft, richtet auf, tröstet – kurz: dient.

Und er geht mit gutem Beispiel voran. Das feiern wir als Christen, wenn wir uns am Sonntag versammeln. Wir feiern die Erinnerung an die Lebenshingabe Jesu, die von der Auferweckung durch Gott gekrönt wird. Jesu Liebe hat ihn dahin gebracht, nicht fortzulaufen oder der Gewalt seiner Glaubensbrüder und der Römer mit Gegengewalt zu antworten, sondern auszuharren.

Aber seine Liebe bestand nicht nur in Leiden und Passivität, sondern sie war der eigentliche Impuls Gottes, sich überhaupt auf den Weg zu den Menschen zu machen.
Das bedeutet: Wenn Gott kommt, dann nicht als prächtiger Held, sondern eben als Diener.
Auch hier enttäuscht Jesus im besten Sinne die Erwartungen der Menschen.

Denn die Liebe schwingt sich eben nicht zum Herrscher auf, sondern lässt andere groß sein. Genau das feiern wir auch jeden Sonntag: Gott beschenkt uns mit seinem Leben, er will seine Liebe auf uns überströmen lassen und uns reich machen, damit wir unsererseits Liebe weiterschenken können.

Gerade letzteres geht nicht ohne Selbstüberwindung. Denn der Wunsch nach Nähe zur Macht sitzt tief in uns. Aber wenn wir uns geliebt fühlen, können auch wir leichter lieben, dann wird das Gefühl der Unsicherheit, das uns in die Nähe der (scheinbar) Mächtigen treibt, schwinden und die Versuchung der Macht kleiner werden.

Ein Mächtiger im Sinne der Welt hätte die beiden unverschämten Jünger vielleicht weggeschickt. Jesus dagegen, der sie liebte und genau wegen Menschen wie ihnen gekommen war, zeigt ihnen, was möglich ist, wenn auch sie die Täuschung der Macht hinter sich lassen und dergestalt „ent-täuscht" anderen Menschen dienen können. 

Tolle Fassade? Noch nicht mal das!
Humboldtforum, Berlin-Mitte, 2018.