Freitag, 7. Dezember 2018

Ankunftszeit 7 – Geschockt in "Der Vogelgott" von Susanne Röckel

Eine geheimnisvoll düstere Religion um Vögel und Vogelmenschen steht im Zentrum des Romans von Susanne Röckel. Dabei empfinden die Hauptakteure ihre inneren Zustände und Erinnerungen so stark, dass alles, was mit vogelartigen Wesen oder Engeln zu tun hat, für sie zu einer persönlichen Prüfung wird. Hier kommt Lorenz gerade auf das Gelände einer Klinik.

Engel in der Ferne.
Binz, Rügen 2016.
"Eine steile Treppe war in den Fels gehauen. 
An ihrem Ende war das Empfangsgebäude, ein wuchtiger historistischer Pavillon mit steinernem Posaunenengel über dem Tor, der auf einer Weltkugel mit der Aufschrift 'Morton-Arzneien' stand. Er schien dem bekannten Posaunenengel von Wohlmuth nachgebildet zu sein. 
Als ich mich ihm näherte, überwältigte mich schockartig die Erinnerung. Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Jenes Gemälde, das über einem Seitenaltar in St. Michael hing, war mir während der regelmäßigen Gottesdienstbesuche unserer Familie immer lebhaft gegenwärtig gewesen, und wie damals ergriff eine diffuse, gegenstandslose Furcht von mir Besitz."1

Diese Ankunft löst Angst aus. Plötzliche Erinnerungen überschwemmen den Erzähler, ohne dass er sich ihrer erwehren kann.

Auch manche Adventstexte scheinen auf den Schockeffekt zu setzen. Anders als im vorliegenden Text aber soll das Erschrecken reinigend wirken und zu einer rettenden Begegnung führen.
Dagegen steht die „diffuse, gegenstandslose Furcht“ von Lorenz – etwas, das nicht greifbar ist, löst Angst in ihm aus.

Die Frage lautet heute darum: Welche diffuse Frage, welche stumm mitlaufende Sorge, welche unausgesprochene Komplikation müsste ich beim Namen nennen, um sie greifbar zu machen und zu bewältigen?
Vielleicht gelingt mir das in diesen Tagen – beispielsweise, wenn ich diese Sache in einem Gebet ausspreche.


Mehr zum Roman in dieser Rezension.

1   S. Röckel, Der Vogelgott. Salzburg und Wien 2018, 209.