Sonntag, 9. Dezember 2018

Ankunftszeit 9 – Schattig in "Die Schulzeit Jesu" von J.M. Coetzee

Jetzt folgt der Text, der in diesem Adventskalender am wenigsten romanhaft ist.
J.M. Coetzee legt die folgenden Aussagen Ana Magdalena Arroyo in den Mund, der Leiterin einer Tanzschule und Ehefrau eines begnadeten Komponisten. Die Tanzschule hat eine platonisch-pythagoreische Grundlagenphilosophie und David, der im Vorgängerband „Die Kindheit Jesu“ mit seinem Ziehvater in das neue Land gekommen ist, besucht diese Schule.

Nur Schatten!?
Hausflur, Neukölln, 2018.
"Wie wir wissen, lassen wir vom Tag unserer Ankunft in diesem Leben unsere frühere Existenz hinter uns. Wir vergessen sie. Doch nicht vollständig. Von unserer früheren Existenz bleiben gewisse Reste – keine Erinnerungen im üblichen Sinne des Wortes, sondern was wir Schatten von Erinnerungen nennen können. Wenn wir uns dann an unser neues Leben gewöhnen, verblassen selbst diese Schatten, bis wir unsere Herkunft ganz und gar vergessen haben und akzeptieren, dass das, was unsere Augen sehen, das einzige Leben ist.
Das Kind jedoch, das kleine Kind, hat noch tiefe Eindrücke von einem früheren Leben, schattenhafte Erinnerungen, die es nicht in Worte fassen kann."1

Einerseits: Mit der Ankunft ist alles Vorherige vorbei und etwas völlig Neues beginnt.
Andererseits: Je mehr ich mich an die Welt gewöhne, desto weniger kann ich spüren, woher ich komme.

Manche Menschen fühlen sich im Advent besonders angesprochen von religiösen Fragen. Vielleicht ist da ein schattenhaftes Ahnen, dass es mehr gibt als den Alltag mit Rationalität und Hektik.

Wie geht es mir damit? Kann ich glauben, dass da mehr ist als „das, was unsere Augen sehen“? Und was konkret stelle ich mir da vor?
Ich kann Gott meinen Zweifel und mein Vertrauen im Gebet hinhalten.


1   J.M. Coetzee, Die Schulzeit Jesu. Frankfurt a.M. 2018, 85.