Donnerstag, 20. Dezember 2018

Ankunftszeit 20 – Verändert in "Olga" von Bernhard Schlink

Olga und Herbert kommen aus zwei verschiedenen Welten: Das einfache Mädchen und der Sohn eines Großgrundbesitzers können nicht zusammen kommen. Zusammen mit Herberts Schwester Viktoria waren sie jedoch einige Zeit ein enges Dreiergespann – bis Viktoria auf eine weiter entfernte Schule geht. Im Sommer kehrt sie zurück:

Die alten Tapeten sind nicht mehr gut genug?
Neuendorf, Hiddensee, 2018.
Das Pensionat schloss über den Sommer, und als Viktoria im Juli nach Hause kam und Olga und Herbert sich auf gemeinsame Wochen in alter Vertrautheit freuten, wurden sie enttäuscht. Viktoria wollte anderes. Sie war auf benachbarte Rittergüter zu Bällen und Festen eingeladen und erwartete von Herbert, dass er sie begleite und die Honneurs mache. Sie hatte Olga nicht vergessen und lud sie, weil es sich gehörte, zu einer Promenade und auf einen Tee ein. Aber danach gestand sie ihrem Bruder, sie könne mit dem einfachen Mädchen nichts anfangen. ‚Lehrerin? Erinnerst du dich an Fräulein Pohl, die alte Jungfer, die wir hatten, als der Lehrer krank war? Das will Olga werden? Jedenfalls hat sie genauso wenig Sinn für Mode wie Fräulein Pohl. Ich wollte ihr helfen und zeigen, dass sie die Ärmel raffen und die Röcke enger tragen muss, und sie sah mich an, als redete ich polnisch. Dabei spricht sie womöglich sogar Polnisch. Ist ihr Gesicht nicht slawisch? Ist Olga Rinke nicht ein slawischer Name? Und warum tritt sie mir gegenüber so stolz auf? Von Gleich zu Gleich? Sie soll froh sein, wenn sie von mir lernt, wie man sich benimmt und anzieht.'1

Das Ausbleiben wäre wohl entspannter gewesen.
Denn die Rückkehr zeigt alles anders als erwartet – nicht mehr die altgewohnte Kinderfreundschaft ist da, sondern plötzlich erhebt sich eine junge Frau über die andere.
Sie soll froh sein, wenn sie von mir lernt...“ – welch fatale Hybris, welcher Standesdünkel spricht aus diesen Worten.

Wenn der Sohn Gottes zu Weihnachten Mensch wird, hätte ein mögliches Ankunftsszenario genauso aussehen können – überheblich, bevormundend und abstoßend.
Aber das ist nicht Gottes Art, sein Weg besteht (bei aller Klarheit) in Einfachheit und Demut.

Und er lädt auch uns auf diesen Weg ein.
Wie ging es mir bei den Begegnungen in dieser Woche – hatte ich meine Gegenüber schon einsortiert und gab ihnen vor, wo es lang zu gehen hat oder ließ ich Raum für Fragen, Zweifel und Meinungen, die meiner eigenen Einstellung widersprechen? 


1   B. Schlink, Olga. Zürich 2018, 37f.