Olga und Herbert kommen
aus zwei verschiedenen Welten: Das einfache Mädchen und der Sohn
eines Großgrundbesitzers können nicht zusammen kommen. Zusammen mit
Herberts Schwester Viktoria waren sie jedoch einige Zeit ein enges
Dreiergespann – bis Viktoria auf eine weiter entfernte Schule geht.
Im Sommer kehrt sie zurück:
Die alten Tapeten sind nicht mehr gut genug? Neuendorf, Hiddensee, 2018. |
„Das Pensionat
schloss über den Sommer, und als Viktoria im Juli nach Hause kam und
Olga und Herbert sich auf gemeinsame Wochen in alter Vertrautheit
freuten, wurden sie enttäuscht. Viktoria wollte anderes. Sie war auf
benachbarte Rittergüter zu Bällen und Festen eingeladen und
erwartete von Herbert, dass er sie begleite und die Honneurs mache.
Sie hatte Olga nicht vergessen und lud sie, weil es sich gehörte, zu
einer Promenade und auf einen Tee ein. Aber danach gestand sie ihrem
Bruder, sie könne mit dem einfachen Mädchen nichts anfangen.
‚Lehrerin? Erinnerst du dich an Fräulein Pohl, die alte Jungfer,
die wir hatten, als der Lehrer krank war? Das will Olga werden?
Jedenfalls hat sie genauso wenig Sinn für Mode wie Fräulein Pohl.
Ich wollte ihr helfen und zeigen, dass sie die Ärmel raffen und die
Röcke enger tragen muss, und sie sah mich an, als redete ich
polnisch. Dabei spricht sie womöglich sogar Polnisch. Ist ihr
Gesicht nicht slawisch? Ist Olga Rinke nicht ein slawischer Name? Und
warum tritt sie mir gegenüber so stolz auf? Von Gleich zu Gleich?
Sie soll froh sein, wenn sie von mir lernt, wie man sich benimmt und
anzieht.'“1
Das Ausbleiben wäre wohl
entspannter gewesen.
Denn die Rückkehr zeigt
alles anders als erwartet – nicht mehr die altgewohnte
Kinderfreundschaft ist da, sondern plötzlich erhebt sich eine junge
Frau über die andere.
„Sie soll froh sein,
wenn sie von mir lernt...“ – welch fatale Hybris, welcher
Standesdünkel spricht aus diesen Worten.
Wenn der Sohn Gottes zu
Weihnachten Mensch wird, hätte ein mögliches Ankunftsszenario
genauso aussehen können – überheblich, bevormundend und
abstoßend.
Aber das ist nicht Gottes
Art, sein Weg besteht (bei aller Klarheit) in Einfachheit und Demut.
Und er lädt auch uns auf
diesen Weg ein.
Wie ging es mir bei den
Begegnungen in dieser Woche – hatte ich meine Gegenüber schon
einsortiert und gab ihnen vor, wo es lang zu gehen hat oder ließ ich
Raum für Fragen, Zweifel und Meinungen, die meiner eigenen
Einstellung widersprechen?
1 B.
Schlink, Olga. Zürich 2018, 37f.