Sonntag, 16. Dezember 2018

Ankunftszeit 16 – Verdächtig in "Hier ist noch alles möglich" von Gianna Molinari

Die Heldin des Romans beginnt als Nachtwächterin in einer Kartonfabrik zu arbeiten und wohnt auch auf dem Fabrikgelände. Langsam freundet sie sich auch mit ihrem Kollegen Clemens an.

Was ist da wirklich los?
Schattenspiele, Grünheide, 2018.
"Normalerweise öffnet Clemens die Tür zum Überwachungsraum mit Schwung, geht, während er den Mantel auszieht, zum Fenster, fragt, wie die Nacht war oder ob sich etwas ereignet habe, und wirft den Mantel über den Radiator. Jetzt aber bleibt er im Türrahmen stehen. Er hält einen Zettel in der Hand.
Wie war die Reise?
Gut, sagt er.
Magst du Kaffee?
Clemens bleibt noch immer stehen. Dann macht er doch einen Schritt in den Raum und hebt den Zettel hoch. Ich sehe das Papier in seiner Hand leicht zittern.
Das ist ein Phantombild der Polizei. Damit wird in der Stadt nach einer Bankräuberin gefahndet. Das Bild sieht dir sehr ähnlich, bist du das, fragt er und streckt mir das Papier entgegen.
Ich schaue auf das Bild.
Das soll ich sein?
Da sind schon Ähnlichkeiten, der Mund, die Nase, findest du nicht?
Ich sage, dass ich nicht glaube, dass ich das sei."1

Wenn ein Verdacht im Raum steht, schwindet plötzlich alle Unbefangenheit.
Dann kann ein Beziehungsgefüge leicht auseinanderbrechen, denn einer verbeißt sich in seine dunkle Perspektive und kann auf einmal nichts anderes mehr sehen.

Der Advent lädt uns ein, mit offenen und unverstellten Augen auf Gott und die Nächsten zuzugehen. Manchmal müssen wir uns dafür erst die Augen putzen.
Die Frage heute: In welchem Fall ist das bei mir besonders nötig?


Weitere Gedanken zu diesem bemerkenswerten Buch finden sich hier.


1   G. Molinari, Hier ist noch alles möglich. Berlin 2018, 140.