Donnerstag, 24. August 2017

Über golden schimmernde Straßen – Das Erinnern in "Lemberg" von Lutz C. Kleveman

Als Infizierter musste ich dieses Buch natürlich lesen.
Denn seit meinem einjährigen Aufenthalt in Lemberg in der Westukraine vor 16 Jahren bin ich mehrfach dort gewesen und bin zudem (trotz der langsamen "Pragisierung" der Altstadt) immer noch der Überzeugung, dass dies eine der schönsten Städte Europas ist.

Und nun hat Lutz C. Kleveman mit "Lemberg. Die vergessene Mitte Europas"1 eine überzeugende Kurzbiographie vorgelegt, in der er den "memoriae urbis der Jahre 1914-1944"2 nachspüren will.

Darum umfasst seine Untersuchung die Herrschaft von Habsburgern und Polen ebenso wie von Deutschen und Sowjets. Einige seiner Ausflüge reichen bis in die Jetztzeit, denn das leitende Motiv des Autors ist die Frage nach den verschiedenen Erinnerungen, die die Stadt prägen. Auslöser seiner Recherchen war der weiterhin andauernde Krieg im Osten der Ukraine, bei dem von besonders seitens der kriegführenden Parteien (inkl. Russland) mit historischen Stereotypen gearbeitet wird, die für Außenstehende schwer aufzuschlüsseln sind.

Ausgestreckte Hände. Lemberg, 2001/2002.
Herausgekommen ist ein ungeheuer spannendes und gut lesbares Buch, das zum einen auf Gesprächen mit Augenzeugen und HistorikerInnen beruht, zum anderen aber eine große Bandbreite zeitgenössischer Tagebücher und Briefe sowie historiographische Publikationen heranzieht, so dass ein sehr differenziertes und vielperspektivisches Bild auf die Stadt entsteht.
Auch seine eigenen Schritte zum entstehenden Buch schildert er immer wieder (leicht literarisch überformt)), so dass die Leser in den Spannungsbogen seines (angedeuteten) Lernprozesses hineingenommen werden.

Etwas pauschalisiert kann man zusammenfassen, dass Kleveman eine Geschichte hin zu immer größeren Schrecken darzustellen hat. Der geschürte Unfrieden zwischen Polen und Ukrainern seit der Habsburger Zeit, der gewalttätig und von nahezu allen Seiten aufbrechende Hass auf die Juden.
Diese Geschichte mag ich hier nicht wiederholen, dazu gibt es an verschiedenen Orten – oder eben in diesem Buch – die Möglichkeit, sich zu informieren.
Was mich aber besonders ansprach – und darüber möchte ich jetzt schreiben –, ist die Refexion auf das Erinnern und sein Vorgehen als Historiker vor allem angesichts der Schuld der Kollaboration und des Schweigens über bestimmte Aspekte dabei.

Denn quellenkritisch erklärt Kleveman Geschichte als "Geschichte nicht nur der Sieger, sondern zunächst einmal der Überlebenden."3 (Das ist mit Blick auf Zeugnisse wie das von Anne Frank und anderer Opfer der Katastrophen des 20. Jahrhunderts natürlich einzuschränken, aber in der Tendenz stimmt es.) Nur diejenigen, die noch erzählen können, werden auch wahrgenommen – und nur diese Erinnerung kann wiederum das kollektive Erinnern beeinflussen.
Kleveman argumentiert dementsprechend auch für die Befragung von Zeitzeugen trotz aller persönlicher Einfärbungen und Verfälschungen u.a. damit: "Wen ich hier finde und wen ich hier nicht mehr finde, sagt ja auch eine Menge über die Stadt und ihre Geschichte aus."4

Allerdings hängt vieles, und das ist dem Autor ebenso wichtig, auch von der ethnischen Zugehörigkeit ab: "In Lemberg gibt es drei kollektive Erinnerungen, die wenig miteinander gemein haben."5 – Damit meint er die polnischen, ukrainischen und jüdischen Erinnerungen.
Außerdem wird individuelles Erinnernkönnen zugleich massiv von den sozialen Rahmenumständen und der jeweiligen Politik des Erinnerns determiniert. Durch sie "wird die individuelle Erinnerung eines Zeitzeugen von dem mitgeformt, was er später in der Zeitung oder im Fernsehen ber ein Ereignis erfährt."6
Darüber hinaus gibt es, wie die Historikerin Svenja Goltermann in ihrem Buch "Die Gesellschaft der Überlebenden"7 über die deutschen Kriegsheimkehrer ausführt, eine Reihe von "Sagbarkeitsregeln", in deren Grenzen es überhaupt erst möglich oder eben nicht möglich ist, über bestimmte Erlebnisse zu sprechen oder nicht zu sprechen. 

Wand mit hebräischen Buchstaben unter dem Putz.
Lemberg, 2001/2002.
Für Lemberg betrifft das vor allem den Umgang mit der jüdischen Bevölkerung.
Das Lemberger Progrom im Juli 1941 scheint in der Erinnerung vieler seiner Gesprächspartner gar nicht stattgefunden zu haben. Natürlich seien einige Juden verprügelt worden, natürlich habe man sie als Strafe für die unterstellte kommunistische Neigung gezwungen, die Leichen des NKWD aus dessen altem Gefängnis zu bringen, aber Schuld seien allein eigens herbeigefahrene Bauern vom Land gewesen oder die Polen oder die deutschen Besatzer selbst – jedoch nicht die Lemberger Stadtbevölkerung. Gleichwohl weisen viele Fotografien (die man bei entsprechender Suche auch im Internet findet) und auch die Aufzeichnungen deutscher Soldaten und der Verfolgten selbst genau darauf hin, dass dieses Progrom, von den Deutschen gebilligt und befördert, vornehmlich und mehrheitlich von der einheimischen Bevölkerung begangen wurde.
Dass man auf der einen Seite von den Besatzern Befreiung von den Sowjets und einen eigenständigen Staat erhoffte und sich auf der anderen Seite mit vielen der faschistischen Methoden und dem der Ideologie immanenten Antisemitismus problemlos identifizieren konnte (wie dies ja auch genug andere Gruppierungen in ganz Europa taten), ist kein Geheimnis, auch ich habe das während meines Aufenthaltes in einer Reihe von Gespräche mitbekommen.
Aber die abscheulichen und menschenverachtenden Gewalttaten und Demütigungen normaler Zivilisten gegenüber den Juden bleiben dabei eben versteckt und werden verleugnet. Das Progrom und die Kollaboration mit den Nazis sind "im heutigen Lemberg offenbar ein dunkles, verdrängtes Kapitel",8 stellt Kleveman fest.

Woran liegt das? Es werden im Buch einige Antwortversuche gegeben, die wohl kumulativ der Wahrheit am nächsten kommen.
Zunächst "passte die jüdische Tragödie nicht in das systemkonstitutive Narrativ"9 der Sowjets von ihrem Großen Vaterländischen Krieg gegen die Nazis. Der Holocaust wurde verschwiegen, weil die Differenzierung zwischen "Sowjetbürgern" und anderen ideologischen Opfern wie den Juden nicht opportun war.
Dies wirkt sicher nach. Auch die eher individuell haftbaren Schuld- und Schamgefühle macht Kleveman geltend. Interessat ist die Vermutung des ukrainischen Historikers Jaroslaw Hryzak, der davon ausgeht, dass "der Holocaust in den Erinnerungen vielerwestukrainischer Familien durch die Erfahrungen sowjetischer Unterdrückung schlichtweg überlagert worden"10 sei.
Auch ich habe das in Gesprächen oft erfahren – die Unfreiheit der Sowjetunion lag so viel näher und belastete die Menschen in ihren Auswirkungen auf das momentane Leben anscheinend so viel mehr, dass wenig Raum blieb für anderes. Und auch der Nationalismus meiner Gesprächspartner wird natürlich eine Rolle gespielt haben.
Schließlich passt "die Kollaboration vieler Ukrainer mit den Nazis [...] nicht in das Selbstbild der Ukraine als Hauptopfer von Sowjetherrschaft und Zweitem Weltkrieg. ... Dass sie in Bezug auf die Juden oft Verbrecher oder zumindest Nazi-Kollaborateure waren, würde das neue nationale Narrativ nur gefährden."11
(Dass der Kreml den Majdan von 2014 als faschistischen Putsch tituliert, scheint sich vor dieser Geschichte einerseits ins Bild zu fügen, andererseits bestärkt es Abneigung und Angst vor dem großen Nachbarn.)
Es ist ein schönes Merkmal dieses Buches, dass diese Problematik von Kleveman zwar kritisch inspiziert, aber nicht auf Kosten der Ukrainer ausgeschlachtet wird. Vielmehr verweist er auf eines der deutschen Lager für die sowjetischen Kriegsgefangenen, das Stalag 328, in dem die Besatzer mitten in Lemberg tausende Rotarmisten erfrieren und verhungern ließen.
Deren Leid und das Leid der Juden sind nicht gegeneinander aufzuwiegen. Aber im Gegensatz zum Leid der Juden waren die Verbrechen speziell an den gefangenen sowjetischen Soldaten nie ein großes Thema in der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Erst 2015 beschloss der Deutsche Bundestag eine Art Entschädigung für die Kriegsgefangenen der Sowjetunion.
Darum resümiert Kleveman:
"Siebzig lange Jahre hat es gedauert, bis sich die deutsche Politik und Gesellschaft den Verbrechen der Wehrmacht an den sowjetischen Gefangenen endlich stellte. Dessen eingedenk, mit welchem Recht kann man als Deutscher den Ukrainern eigentlich vorwerfen, ihre dunkle Vergangenheit von 1941 bis 1944 nicht schnell und kritisch genug aufzuarbeiten? So notwendig es ist, die ukrainische Kollaboration und Holocaust-Beteiligung eingehend zu recherchieren, so selbstgerecht wäre es, mit dem Finger nur auf die Ukrainer zu zeigen."12

Sowjetisches Ehrenmal.
Lemberg, 2001/2002.
Selbstkritik und das Hinweisen auf Defizite müssten also Hand in Hand gehen – und das geht nur von innen. Die Ukrainer selbst werden ein Interesse daran entwickeln müssen, ein differenziertes Bild ihrer Nation zu entwickeln und vor den dunklen Seiten nicht zurückzuschrecken. Dass das in Zeiten des Krieges nicht eben einfacher ist, liegt auf der Hand.
Aber für eine Heilung wird es nötig sein, sich allen Seiten dieser ambivalenten Geschichte "so kritisch wie nachsichtig"13 zu stellen, um die festgefahrenen Sichtweisen aufzulockern.

Doch von diesen konkreten politischen Wünschen abgesehen, ist Lemberg (nun auch für mich) "ein großes Nichtmehr."14
Unter Hinweis auf die Stolpersteine von Gunter Demnig fasst Kleveman die Verheerungen der Lemberger Bevölkerungsstruktur in ein traurig-schönes Bild: Ein Einsetzen dieser Erinnerungshelfer an allen Stellen, wo Juden und Polen und andere Ur-Lemberger verschwunden sind – und "die Straßen der Stadt würden golden leuchten."15


1   L. C. Kleveman, Lemberg. Die vergessene Mitte Europas. Berlin 2017.
2   Ebd., 20.
3   Ebd., 291.
4   Ebd., 154.
5   Ebd., 153.
6   Ebd., 152.
7   S. Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München 2009. Zur Sache vgl. zusammenfassend 421ff.
8   L. C. Kleveman, a.a.O., 213.
9   Ebd., 214.
10   Ebd.
11   Ebd., 215.
12   Ebd., 266.
13   Ebd., 295.
14   Ebd., 293.
15   Ebd.