Als Infizierter musste ich dieses Buch
natürlich lesen.
Denn seit meinem einjährigen
Aufenthalt in Lemberg in der Westukraine vor 16 Jahren bin ich
mehrfach dort gewesen und bin zudem (trotz der langsamen
"Pragisierung" der Altstadt) immer noch der Überzeugung,
dass dies eine der schönsten Städte Europas ist.
Und nun hat Lutz C. Kleveman mit
"Lemberg. Die vergessene Mitte Europas"1
eine überzeugende Kurzbiographie vorgelegt, in der er den "memoriae
urbis der Jahre
1914-1944"2
nachspüren will.
Darum umfasst seine Untersuchung die
Herrschaft von Habsburgern und Polen ebenso wie von Deutschen und
Sowjets. Einige seiner Ausflüge reichen bis in die Jetztzeit, denn
das leitende Motiv des Autors ist die Frage nach den verschiedenen
Erinnerungen, die die Stadt prägen. Auslöser seiner Recherchen war
der weiterhin andauernde Krieg im Osten der Ukraine, bei dem von
besonders seitens der kriegführenden Parteien (inkl. Russland) mit
historischen Stereotypen gearbeitet wird, die für Außenstehende
schwer aufzuschlüsseln sind.
Ausgestreckte Hände. Lemberg, 2001/2002. |
Herausgekommen ist ein ungeheuer
spannendes und gut lesbares Buch, das zum einen auf Gesprächen mit
Augenzeugen und HistorikerInnen beruht, zum anderen aber eine große
Bandbreite zeitgenössischer Tagebücher und Briefe sowie
historiographische Publikationen heranzieht, so dass ein sehr
differenziertes und vielperspektivisches Bild auf die Stadt entsteht.
Auch seine eigenen Schritte zum
entstehenden Buch schildert er immer wieder (leicht literarisch
überformt)), so dass die Leser in den Spannungsbogen seines
(angedeuteten) Lernprozesses hineingenommen werden.
Etwas pauschalisiert kann man
zusammenfassen, dass Kleveman eine Geschichte hin zu immer größeren
Schrecken darzustellen hat. Der geschürte Unfrieden zwischen Polen
und Ukrainern seit der Habsburger Zeit, der gewalttätig und von
nahezu allen Seiten aufbrechende Hass auf die Juden.
Diese Geschichte mag ich hier nicht
wiederholen, dazu gibt es an verschiedenen Orten – oder eben in
diesem Buch – die Möglichkeit, sich zu informieren.
Was mich aber besonders ansprach –
und darüber möchte ich jetzt schreiben –, ist die Refexion auf
das Erinnern und sein Vorgehen als Historiker vor allem angesichts
der Schuld der Kollaboration und des Schweigens über bestimmte
Aspekte dabei.
Denn quellenkritisch erklärt Kleveman
Geschichte als "Geschichte nicht nur der Sieger, sondern
zunächst einmal der Überlebenden."3
(Das ist mit Blick auf Zeugnisse wie das von Anne Frank und anderer
Opfer der Katastrophen des 20. Jahrhunderts natürlich
einzuschränken, aber in der Tendenz stimmt es.) Nur diejenigen, die
noch erzählen können, werden auch wahrgenommen – und nur diese
Erinnerung kann wiederum das kollektive Erinnern beeinflussen.
Kleveman argumentiert dementsprechend
auch für die Befragung von Zeitzeugen trotz aller persönlicher
Einfärbungen und Verfälschungen u.a. damit: "Wen ich hier
finde und wen ich hier nicht mehr finde, sagt ja auch eine Menge über
die Stadt und ihre Geschichte aus."4
Allerdings hängt vieles, und das ist
dem Autor ebenso wichtig, auch von der ethnischen Zugehörigkeit ab:
"In Lemberg gibt es drei kollektive Erinnerungen, die wenig
miteinander gemein haben."5
– Damit meint er die polnischen, ukrainischen und jüdischen
Erinnerungen.
Außerdem wird individuelles
Erinnernkönnen zugleich massiv von den sozialen Rahmenumständen und
der jeweiligen Politik des Erinnerns determiniert. Durch sie "wird
die individuelle Erinnerung eines Zeitzeugen von dem mitgeformt, was
er später in der Zeitung oder im Fernsehen ber ein Ereignis
erfährt."6
Darüber hinaus gibt es, wie die
Historikerin Svenja Goltermann in ihrem Buch "Die
Gesellschaft der Überlebenden"7
über die deutschen Kriegsheimkehrer ausführt, eine Reihe von
"Sagbarkeitsregeln", in deren Grenzen es überhaupt
erst möglich oder eben nicht möglich ist, über bestimmte
Erlebnisse zu sprechen oder nicht zu sprechen.
Wand mit hebräischen Buchstaben unter dem Putz. Lemberg, 2001/2002. |
Für Lemberg betrifft das vor allem den
Umgang mit der jüdischen Bevölkerung.
Das Lemberger Progrom im Juli 1941
scheint in der Erinnerung vieler seiner Gesprächspartner gar nicht
stattgefunden zu haben. Natürlich seien einige Juden verprügelt
worden, natürlich habe man sie als Strafe für die unterstellte
kommunistische Neigung gezwungen, die Leichen des NKWD aus dessen
altem Gefängnis zu bringen, aber Schuld seien allein eigens
herbeigefahrene Bauern vom Land gewesen oder die Polen oder die
deutschen Besatzer selbst – jedoch nicht die Lemberger
Stadtbevölkerung. Gleichwohl weisen viele Fotografien (die man bei
entsprechender Suche auch im Internet findet) und auch die
Aufzeichnungen deutscher Soldaten und der Verfolgten selbst genau
darauf hin, dass dieses Progrom, von den Deutschen gebilligt und
befördert, vornehmlich und mehrheitlich von der einheimischen
Bevölkerung begangen wurde.
Dass man auf der einen Seite von den
Besatzern Befreiung von den Sowjets und einen eigenständigen Staat
erhoffte und sich auf der anderen Seite mit vielen der faschistischen
Methoden und dem der Ideologie immanenten Antisemitismus problemlos
identifizieren konnte (wie dies ja auch genug andere Gruppierungen in
ganz Europa taten), ist kein Geheimnis, auch ich habe das während
meines Aufenthaltes in einer Reihe von Gespräche mitbekommen.
Aber die abscheulichen und
menschenverachtenden Gewalttaten und Demütigungen normaler
Zivilisten gegenüber den Juden bleiben dabei eben versteckt und
werden verleugnet. Das Progrom und die Kollaboration mit den Nazis
sind "im heutigen Lemberg offenbar ein dunkles, verdrängtes
Kapitel",8
stellt Kleveman fest.
Woran liegt das? Es werden im Buch
einige Antwortversuche gegeben, die wohl kumulativ der Wahrheit am
nächsten kommen.
Zunächst "passte die jüdische
Tragödie nicht in das systemkonstitutive Narrativ"9
der Sowjets von ihrem Großen Vaterländischen Krieg gegen die Nazis.
Der Holocaust wurde verschwiegen, weil die Differenzierung zwischen
"Sowjetbürgern" und anderen ideologischen Opfern wie den
Juden nicht opportun war.
Dies wirkt sicher nach. Auch die eher
individuell haftbaren Schuld- und Schamgefühle macht Kleveman
geltend. Interessat ist die Vermutung des ukrainischen Historikers
Jaroslaw Hryzak, der davon ausgeht, dass "der Holocaust in
den Erinnerungen vielerwestukrainischer Familien durch die
Erfahrungen sowjetischer Unterdrückung schlichtweg überlagert
worden"10
sei.
Auch ich habe das in Gesprächen oft
erfahren – die Unfreiheit der Sowjetunion lag so viel näher und
belastete die Menschen in ihren Auswirkungen auf das momentane Leben
anscheinend so viel mehr, dass wenig Raum blieb für anderes. Und
auch der Nationalismus meiner Gesprächspartner wird natürlich eine
Rolle gespielt haben.
Schließlich passt "die
Kollaboration vieler Ukrainer mit den Nazis [...] nicht in das
Selbstbild der Ukraine als Hauptopfer von Sowjetherrschaft und
Zweitem Weltkrieg. ... Dass sie in Bezug auf die Juden oft Verbrecher
oder zumindest Nazi-Kollaborateure waren, würde das neue nationale
Narrativ nur gefährden."11
(Dass der Kreml den Majdan von 2014 als faschistischen Putsch tituliert, scheint sich vor dieser Geschichte
einerseits ins Bild zu fügen, andererseits bestärkt es Abneigung
und Angst vor dem großen Nachbarn.)
Es ist ein schönes Merkmal dieses
Buches, dass diese Problematik von Kleveman zwar kritisch inspiziert,
aber nicht auf Kosten der Ukrainer ausgeschlachtet wird. Vielmehr
verweist er auf eines der deutschen Lager für die sowjetischen
Kriegsgefangenen, das Stalag 328, in dem die Besatzer mitten in
Lemberg tausende Rotarmisten erfrieren und verhungern ließen.
Deren Leid und das Leid der Juden sind
nicht gegeneinander aufzuwiegen. Aber im Gegensatz zum Leid der Juden
waren die Verbrechen speziell an den gefangenen sowjetischen Soldaten
nie ein großes Thema in der deutschen Vergangenheitsbewältigung.
Erst 2015 beschloss der Deutsche Bundestag eine Art Entschädigung
für die Kriegsgefangenen der Sowjetunion.
Darum resümiert Kleveman:
"Siebzig lange Jahre hat es
gedauert, bis sich die deutsche Politik und Gesellschaft den
Verbrechen der Wehrmacht an den sowjetischen Gefangenen endlich
stellte. Dessen eingedenk, mit welchem Recht kann man als Deutscher
den Ukrainern eigentlich vorwerfen, ihre dunkle Vergangenheit von
1941 bis 1944 nicht schnell und kritisch genug aufzuarbeiten? So
notwendig es ist, die ukrainische Kollaboration und
Holocaust-Beteiligung eingehend zu recherchieren, so selbstgerecht
wäre es, mit dem Finger nur auf die Ukrainer zu zeigen."12
Sowjetisches Ehrenmal. Lemberg, 2001/2002. |
Selbstkritik und das Hinweisen auf
Defizite müssten also Hand in Hand gehen – und das geht nur von
innen. Die Ukrainer selbst werden ein Interesse daran entwickeln
müssen, ein differenziertes Bild ihrer Nation zu entwickeln und vor
den dunklen Seiten nicht zurückzuschrecken. Dass das in Zeiten des
Krieges nicht eben einfacher ist, liegt auf der Hand.
Aber für eine Heilung wird es nötig
sein, sich allen Seiten dieser ambivalenten Geschichte "so
kritisch wie nachsichtig"13
zu stellen, um die festgefahrenen Sichtweisen aufzulockern.
Doch von diesen konkreten politischen
Wünschen abgesehen, ist Lemberg (nun auch für mich) "ein
großes Nichtmehr."14
Unter Hinweis auf die Stolpersteine von
Gunter Demnig fasst Kleveman die Verheerungen der Lemberger
Bevölkerungsstruktur in ein traurig-schönes Bild: Ein Einsetzen
dieser Erinnerungshelfer an allen Stellen, wo Juden und Polen und
andere Ur-Lemberger verschwunden sind – und "die Straßen
der Stadt würden golden leuchten."15
1 L.
C. Kleveman, Lemberg. Die vergessene Mitte Europas. Berlin 2017.
2 Ebd.,
20.
3 Ebd.,
291.
4 Ebd.,
154.
5 Ebd.,
153.
6 Ebd.,
152.
7 S.
Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche
Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg.
München 2009. Zur Sache vgl. zusammenfassend 421ff.
8 L.
C. Kleveman, a.a.O., 213.
9 Ebd.,
214.
10 Ebd.
11 Ebd.,
215.
12 Ebd.,
266.
13 Ebd.,
295.
14 Ebd.,
293.
15 Ebd.