Ach, die Ukraine! Ach, die Ukrainer!
Seit dreizehn Jahren nehme ich inneren
Anteil an dem, was in diesem Land „am Rande“ Europas passiert.
Immer wieder bin ich seit 2001 hingereist, weil es mich zieht, weil
das Land in seiner Zerrissenheit und Ungleichzeitigkeit mich
fasziniert. Einige Eindrücke:
Hausbemalung, Sychiw, Lemberg, 2001. |
2001-2002
Während eines Freiwilligendienstes
besuche ich ehemalige KZ- und Gulag-Häftlinge zu Hause – auf diese
Weise komme ich mit alten Menschen und ihren äußerst ärmlichen
Lebensumständen in Kontakt. Die Gewalterfahrungen unter den
Deutschen stehen für die Mehrzahl ganz zurück hinter der als
Okkupation empfundenen Sowjetzeit, die für viele in Armut endete.
Für die Einreise in die Ukraine benötigt man ein Visum und viel
Geduld beim Grenzübertritt. Die Stadt L'viv (Lemberg, Lwów, Lvov)
erscheint mir als ein fast surrealer Mix aus postsowjetischer
Nachlässigkeit, polnischen Sehnsüchten und habsburgischer
Architektur. Viele Patrioten erklären mir, wie die „Moskalcy“
um Leonid Kutschma im Osten ihr Land beherrschen wollen und dabei
noch nicht einmal richtig ukrainisch sprechen können.
Hände aus Beton, Lemberg, 2001. |
2004
Mit Freunden geht es Anfang März
durchs Land – auch nach Ziuropinsk am Schwarzen Meer, unter anderem
zu Besuch in einem Behindertenkinderheim, in dem Bekannte arbeiten.
Es zeigt sich wie bei den Alten, dass diejenigen in der Ukraine
vergessen sind, die keine Lobby haben. Mehr als bloße Verwahrung ist
bei den personellen und finanziellen Lücken nicht möglich. Schwer
erträglich! Dasselbe gilt für die militärischen Vorlieben vieler
Ukrainer. Nicht nur die monumentalen Siegessymbole aus der Sowjetzeit
prägen das Land, auch die Präsenz von militärisch Uniformierten
fällt mir wieder auf. Nach der Unabhängigkeit 1991 war es ein
wichtiges Ziel, möglichst rasch eine funktionierende Armee
aufzustellen, damit Russland nicht seine noch bestehende militärische
Macht nutzen konnte, um die Befreiungsbestrebungen zu torpedieren.
Heiliger Andreas, Blick über den Dnjepr, Kiew, 2002. |
2005
Nachdem ich die „Orangene Revolution“
von Lublin in Ostpolen aus beobachtet habe, geht eine Reise von
Lemberg aus gen Osten und Süden. Der Grenzübertritt erfolgt zum
Ausprobieren mal zu Fuß, viele Schmuggler wundern sich, was wir da
machen. Übernachtungen werden vor Ort von am Bahnhof stehenden
Babuschkas gemietet, so finden wir viele schöne Orte nahe bei den
Lebensumständen der Menschen. Die Gästewohnungen gehören dabei oft
den Kindern oder anderen Verwandten, die in „Europa“ arbeiten.
Die Information, dass es auch in Deutschland Arbeitslosigkeit und
Alkoholismus gibt, wird eher ungläubig zur Kenntnis genommen. Im
Westen des Landes herrscht unter Präsident Wiktor Juschtschenko eine
kurze euphorische Aufbruchsstimmung.
2008
Für ein einmonatiges Experiment
arbeite ich mit einem Jesuiten zunächst in einer Tagesstätte für
behinderte Kinder und Jugendliche, dann gehen wir auf einen
einwöchigen Pilgerweg von Lemberg in ein nahegelegenes orthodoxes
Kloster. Das Betteln und die Fußmärsche machen uns zwar nicht
vertrauensvoll, aber trotzdem bekommen wir überall Essen und Möglichkeiten
der Übernachtung geboten. Die politische Zerrissenheit der
Konfessionen bietet dabei ein Bild des Jammers – während in der
Sowjetunion nur die russisch-orthodoxe Kirche erlaubt war, gibt es
seit der Eigenstaatlichkeit nicht nur die mit Rom unierte
Griechisch-Katholische Kirche wieder, sondern auch noch drei
orthodoxe Kirchen, die sich gegenseitig den Vorrang streitig machen
wollen. Auf den Dörfern ist dies eine heikle Frage, auch bezüglich der Eigentumsverhältnisse von Grundstücken.
Kopf unter Balkon, Lemberg, 2008. |
2010
Einmal bin ich mit zwei Jesuiten auf
Urlaub und einmal mit Schülern der Oberstufe im Land unterwegs. Klar wird mir
auf der ersten Reise, dass auch eine Menge Vietnamesen hier arbeiten,
vor allem im Osten, in Kiew, Odessa und Donezk. Unter schwierigen
sprachlichen und sozialen Voraussetzungen haben sie aber auch in
einem der ärmsten Länder Europas und vor den Toren der EU noch die
Möglichkeit, Geld nach Hause zu schicken. Mit den Schülern besuchen
wir unter anderem ein Flüchtlingsheim der Jesuiten. Viele
Tschetschenen und Afghanen stranden auf ihrem Weg nach einem besseren
Leben in der Ukraine – können schwer weiter und wollen nicht
zurück.
Ich bete für die Ukraine und für die
Ukrainer in diesen stürmischen Tagen. Politische Kultur und
demokratische Umgangsformen müssen sich auch unter diesen Umständen
weiter entwickeln.
Mit den Worten eines großen
deutschsprachigen Dichters, Paul Celan, der in Czernowitz, in der
heutigen Ukraine geboren wurde:
„Es ist Zeit, dass der Stein sich zu
blühen bequemt,
dass der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, dass es Zeit wird.“1
Himmel über Kiew, 2010. |
1 Paul
Celan, Corona; zit. nach: Paul Celan, Ausgewählte Gedichte. Zwei
Reden. Frankfurt a.M. 1967, 17.