Ein schiefes Bild bringt die Dinge auf
den Punkt: "es passt wie die Faust aufs Auge" – das
Evangelium von der Feindesliebe an diesem Sonntag und die aktuellen
Vorgänge in der Ukraine.
Nachdem am Samstag wichtige
Verfassungsänderungen beschlossen, die ehemalige Ministerpräsidentin
Julia Timoschenko aus dem Gefängnis entlassen und Präsident Wiktor
Janukowitsch abgesetzt wurden, hoffe ich, dass die nächsten Schritte
nun mit ruhiger Hand und dem allgemeinen Willen, demokratisch und
rechtsstaatlich zu verfahren, getan werden.
Straßenkunst, Rixdorf, 2014. |
Der Wille des Volkes, der sich im
mehrmonatigen Widerstehen gegen die Staatsgewalt Bahn gebrochen hat,
der Wille, der über die demokratischen und pseudo-demokratischen
Prozesse keinen Weg mehr in die politischen Handlungen fand, braucht
nun, angesichts der aufgeheizten bürgerkriegsartigen Situation, die
Bindung an Rechtsstaatlichkeit.
Diese ohne vertrauenswürdige und bewährte rechtsstaatliche Traditionen zu erreichen wird ein langer
und steiniger Weg.
"Liebt eure Feinde und betet für
die, die euch verfolgen" (5,44). Wie passt dieses Wort Jesu im
Matthäusevangelium zu den Tumulten und den aggressiven Bürgerwehren
in Kiew?
Ich tue mich sehr schwer, in dieser jesuanischen Radikalität ein realistisches Ideal zu sehen.
Ich tue mich sehr schwer, in dieser jesuanischen Radikalität ein realistisches Ideal zu sehen.
Nachgeben oder gar Vergeben gelten auf
der politischen Bühne nicht als Tugenden und sind im kontroversen
gesellschaftlichen Diskurs auch nur bedingt vernünftig. Die andere
Wange hinzuhalten ist von den Mächtigen in der Geschichte zu oft
ausgenutzt worden.
Doch spätestens nach der Wende im
politischen Machtkampf kann die Alternative des "Auge für Auge
und Zahn für Zahn" (5,38) keine Lösung sein.
Vergeltungsgerechtigkeit wird zum Strudel öffentlicher moralischer
Entrüstung und die jetzige Rede vom "Gericht" über die
bisherigen Machthaber (von Seiten mancher Demonstranten) erschreckt
mich genauso wie damals die linken politisch motivierten Prozesse,
beispielsweise gegen Julia Timoschenko.
Dabei ist der Wunsch nach Vergeltung so
nachvollziehbar und einleuchtend – und zugleich so begrenzt in
seiner abschließenden Wirkung.
Der Tod des Feindes als Lösung eines
Konfliktes bleibt eine Illusion – doch gilt das nicht auch für den
realpolitischen Sinn des Satzes: "Leistet dem, der euch etwas
Böses antut, keinen Widerstand"?
Straßenpflaster, Markt, Weimar, 2014. |
In Camus' großem Roman "Die Pest"
kann man die Tragik dieser Dialektik von Tod und Widerstand gegen den Tod erahnen. Einer der
Protagonisten, Tarrou, ist überzeugt, "dass jeder die Pest in
sich trägt, weil kein Mensch, nein, kein Mensch auf der ganzen Welt
frei davon ist". Dann führt er aus: "ich habe gelernt,
dass wir alle in der Pest sind, und ich habe den Frieden verloren.
Ich suche ihn noch heute, indem ich probiere, alle zu verstehen und
keines Menschen Todfeind zu sein. Ich weiß nur, dass man alles
Nötige machen muss, um nicht mehr an der Pest zu kranken, und dass
nur darin eine Hoffnung auf Frieden liegt oder doch wenigstens auf
einen guten Tod. Das ist es, was die Menschen erleichtern kann und
ihnen, wenn es sie auch nicht rettet, doch möglichst wenig Böses
zufügt und manchmal sogar ein bißchen wohltut. Und darum habe ich
beschlossen, alles abzulehnen, was von nah oder fern, aus guten oder
schlechten Gründen, tötet oder rechtfertigt, dass getötet wird."1
Eine passendere Übersetzung für die
Feindesliebe Jesu als Absage an die Pest des Todeswunsches habe ich
selten gefunden.
Vielleicht kann dieser Gedanke vom
Verzicht auf Vergeltung trotz Märtyrerpathos und
Politikermisstrauen, trotz Befreiungstaumel und Vergeltungswünschen
in der Ukraine Raum greifen. Es wäre wohl ein Weg zu der
Vollkommenheit, die Jesus seinen HörerInnen anempfiehlt.
1 A.
Camus, Die Pest. Reinbek bei Hamburg 1962, 149.