Sonntag, 23. Februar 2014

Feindesliebe im ukrainischen Umbruch?

Ein schiefes Bild bringt die Dinge auf den Punkt: "es passt wie die Faust aufs Auge" – das Evangelium von der Feindesliebe an diesem Sonntag und die aktuellen Vorgänge in der Ukraine.

Nachdem am Samstag wichtige Verfassungsänderungen beschlossen, die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko aus dem Gefängnis entlassen und Präsident Wiktor Janukowitsch abgesetzt wurden, hoffe ich, dass die nächsten Schritte nun mit ruhiger Hand und dem allgemeinen Willen, demokratisch und rechtsstaatlich zu verfahren, getan werden. 

Straßenkunst, Rixdorf, 2014.
Der Wille des Volkes, der sich im mehrmonatigen Widerstehen gegen die Staatsgewalt Bahn gebrochen hat, der Wille, der über die demokratischen und pseudo-demokratischen Prozesse keinen Weg mehr in die politischen Handlungen fand, braucht nun, angesichts der aufgeheizten bürgerkriegsartigen Situation, die Bindung an Rechtsstaatlichkeit.
Diese ohne vertrauenswürdige und bewährte rechtsstaatliche Traditionen zu erreichen wird ein langer und steiniger Weg.

"Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen" (5,44). Wie passt dieses Wort Jesu im Matthäusevangelium zu den Tumulten und den aggressiven Bürgerwehren in Kiew?
Ich tue mich sehr schwer, in dieser jesuanischen Radikalität ein realistisches Ideal zu sehen.
Nachgeben oder gar Vergeben gelten auf der politischen Bühne nicht als Tugenden und sind im kontroversen gesellschaftlichen Diskurs auch nur bedingt vernünftig. Die andere Wange hinzuhalten ist von den Mächtigen in der Geschichte zu oft ausgenutzt worden.


Doch spätestens nach der Wende im politischen Machtkampf kann die Alternative des "Auge für Auge und Zahn für Zahn" (5,38) keine Lösung sein. Vergeltungsgerechtigkeit wird zum Strudel öffentlicher moralischer Entrüstung und die jetzige Rede vom "Gericht" über die bisherigen Machthaber (von Seiten mancher Demonstranten) erschreckt mich genauso wie damals die linken politisch motivierten Prozesse, beispielsweise gegen Julia Timoschenko.
Dabei ist der Wunsch nach Vergeltung so nachvollziehbar und einleuchtend – und zugleich so begrenzt in seiner abschließenden Wirkung.
Der Tod des Feindes als Lösung eines Konfliktes bleibt eine Illusion – doch gilt das nicht auch für den realpolitischen Sinn des Satzes: "Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand"?

Straßenpflaster, Markt, Weimar, 2014.
In Camus' großem Roman "Die Pest" kann man die Tragik dieser Dialektik von Tod und Widerstand gegen den Tod erahnen. Einer der Protagonisten, Tarrou, ist überzeugt, "dass jeder die Pest in sich trägt, weil kein Mensch, nein, kein Mensch auf der ganzen Welt frei davon ist". Dann führt er aus: "ich habe gelernt, dass wir alle in der Pest sind, und ich habe den Frieden verloren. Ich suche ihn noch heute, indem ich probiere, alle zu verstehen und keines Menschen Todfeind zu sein. Ich weiß nur, dass man alles Nötige machen muss, um nicht mehr an der Pest zu kranken, und dass nur darin eine Hoffnung auf Frieden liegt oder doch wenigstens auf einen guten Tod. Das ist es, was die Menschen erleichtern kann und ihnen, wenn es sie auch nicht rettet, doch möglichst wenig Böses zufügt und manchmal sogar ein bißchen wohltut. Und darum habe ich beschlossen, alles abzulehnen, was von nah oder fern, aus guten oder schlechten Gründen, tötet oder rechtfertigt, dass getötet wird."1

Eine passendere Übersetzung für die Feindesliebe Jesu als Absage an die Pest des Todeswunsches habe ich selten gefunden.

Vielleicht kann dieser Gedanke vom Verzicht auf Vergeltung trotz Märtyrerpathos und Politikermisstrauen, trotz Befreiungstaumel und Vergeltungswünschen in der Ukraine Raum greifen. Es wäre wohl ein Weg zu der Vollkommenheit, die Jesus seinen HörerInnen anempfiehlt.


1   A. Camus, Die Pest. Reinbek bei Hamburg 1962, 149.