Donnerstag, 20. März 2014

Unordnung im Kopf

Die Lage schien während der anstrengenden Tage auf dem Majdan noch so schön eindeutig – hier ein böser Janukowitsch und sein undemokratischer Machterweiterungstrieb, dort die prowestlichen und damit guten Kräfte, die demonstrierten.

Aber was ist nun in der Ukraine los?
Sind da faschistische und antisemitische Umstürzler am Werk, wie die Linke zusammen mit Putin behauptet oder ist es eine größtenteils demokratisch orientierte Freiheitsbewegung? Haben Einheiten der Berkut am Majdan auf Demonstranten geschossen oder waren es tatsächlich Kugeln aus denselben Gewehren, die auch auf die Polizei abgefeuert wurden? Deckt das Völkerrecht die Autonomiebestrebungen der Krim oder muss die Zentralgewalt aus Kiew mitreden? War die Krim 1954 nicht sowieso nur durch einen totalitären Akt an die Ukraine übertragen worden? Ist das nun durchgeführte vorgezogene Referendum ein Akt des Bevölkerungswillens oder russisch gelenkte und militärisch unterstützte Propaganda? Und überhaupt – welche Fäden ziehen die westlichen Mächte im Hintergrund? Haben sie Russland schon zuvor in die Enge getrieben? Wird Putin nun weitere Machtmittel in den ukrainischen Brennpunkten einsetzen?

Wo nun die moralisch besseren Alternativen stehen, ist nicht ganz klar, auch wenn die EU und "der Westen" gute Argumente auf ihrer Seite haben, wenn es um Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Selbstbestimmung, Freiheitsrechte geht.

Die verschiedenen Facetten auf das Problem sind sicher nicht ohne Weiteres auf einen Nenner zu bringen. Und was auf die derzeitigen Entwicklungen folgt, ist angesichts der ukrainischen Mobilmachung und den kurzen Kämpfen auf der Krim auch noch überhaupt nicht klar.

U-Bahn-Eingang, Neukölln, Berlin, 2014.
In ihrem aus vielen Perpektiven gebauten Roman "Aller Tage Abend"1 spielt Jenny Erpenbeck mit ebendiesen Fragen – wie ist es denn nun wirklich, welche Sicht auf ein Leben zeigt denn die Wahrheit? Die Protagonistin stirbt viele Tode – und stirbt sie doch nicht, wenn die Geschichte nämlich auf eine andere Weise weitergegangen wäre, die nur eine leichte Änderung an einer Stelle bedeutet hätte.

Das Unbehagen an politisch Handelnden ist in der Ukraine weit verbreitet, Korruption wird als Normalfall vermutet. Welche Motive wirklich die treibenden sind, lässt sich schwer erkennen. Erpenbeck skizziert an einer Stelle die ideologisch zweifelnden Gedanken der Hauptfigur, die sich im Kommunismus sicher wähnte:
"Oder will vielleicht Stalin selbst, als Hitler verkleidet, der wiederum als Stalin verkleidet ist, zweifach maskiert, zweifach verlarvt und tatsächlich doppelzüngig – als sein eigener Agent, aus Angst in einer guten Welt die Hoffnung auf eine bessere für immer zu verlieren, aus Angst vor dem Stillstand, die kommunistische Bewegung noch einmal ins Hoffen zurückmorden?" (186)

Wohin geht es also und warum? Und wer handelt mit welchen Motiven?
So eine Unordnung! 
Würden sich die international Handelnden wenigstens ihre begrenzte Einsicht eingestehen, wäre schon viel gewonnen.



1   J. Erpenbeck, Aller Tage Abend. München 4. Aufl. 2012.