Montag, 26. Dezember 2022

Herbergssuche zwischen Kyjw und Frankfurt (Oder). Geistliche Betrachtungen zum Weihnachtsfest.

MUSIK 1

Extra 1
Zuweisungsbescheid. / Wohnungsgeberbestätigung. / Sprachkursteilnahme. / Aufenthaltstitel. / Kostenübernahme.

Haus im Regen.
Frankfurt (Oder), 2022.
Sprecher 1
Es sind lange und komplizierte Wörter, die wichtig werden, wenn man in Deutschland Zuflucht gefunden hat. Darum haben viele Ukrainerinnen und Ukrainer in den letzten Monaten mit diesen Wörtern zu tun bekommen. Aber viel mehr haben sie sich mit dem beschäftigt, was hinter diesen Wörtern steht: Rettung vor dem Krieg, Sicherung des Lebensunterhalts, ein Dach über dem Kopf und versuchen, das Leben in Deutschland zu meistern.

Das alles erscheint in einem besonderen Licht, wenn wir in diesen Tagen Weihnachten feiern. Denn an Weihnachten feiern Christinnen und Christen die Geburt Jesu Christi. Wir feiern die Ankunft eines Fremden - als einer von uns. Oder in der Sprache der Theologie: Gott wird Mensch in Jesus Christus.
Die Berichte über Jesu Geburt sind – vorsichtig formuliert – historisch ungesichert. In den bekannten biblischen Texten wird berichtet von einer Volkszählung des Kaisers Augustus, vom Weg Josefs mit der schwangeren Maria aus Nazareth in Galiläa nach Betlehem, von der Geburt im Stall, weil „in der Herberge kein Platz mehr war“.
Was auch immer davon so oder so ähnlich geschehen ist: der Wunsch des biblischen Autors wird deutlich. Er wollte zeigen, dass Gott in ungesicherte Verhältnisse kommt, dass keine „Willkommenskultur“ herrscht, dass niemand mit offenen Armen auf ihn wartet.


Einige Tage nach der russischen Invasion floh Ernst mit seiner Frau und fünf Kindern aus der Nähe von Kyjw:

O-Ton 1

„Damals, am 01. März, war Deutschland weit entfernt, noch nicht einmal im Kopf. Wir fuhren nach Polen zu Bekannten, um dem Krieg zu entkommen. Nach Deutschland zu kommen war nicht unsere Entscheidung. Wir übernachteten einmal und wie ein Engel des Herrn brachte Jürgen uns nach Deutschland. Das war eine ganz eigene Geschichte. Wir kannten die Sprache nicht, hatten einfach Angst um die Kinder. Wir hatten totale Angst. Was wird nur werden – so klingelte es uns die ganze Zeit im Kopf. Uns blieb nur übrig, uns auf den Willen Gottes zu verlassen. Das war ein großer Akt des Vertrauens.“

MUSIK 2

Sprecher 2
Als Anfang März Sonderzüge eingesetzt werden, die ukrainische Flüchtlinge aus Polen nach Deutschland bringen, finden sich bei uns in Frankfurt (Oder) rasch Freiwillige, um die Passagiere bei ihrem ersten Halt auf deutschem Boden zu begrüßen.
Die meisten Flüchtlinge sind überstürzt aufgebrochen und nach der oftmals tagelangen Fahrt erschöpft und ausgelaugt. Ein konkretes Ziel haben die Wenigsten. Aber ans Aussteigen denkt hier, direkt an der deutsch-polnischen Grenze, fast niemand – die großen Städte im Westen Deutschlands sind bekannter. Nur vereinzelt wundern sich einige, dass sie schon in Frankfurt sind, bis klar wird, dass es ein kleines Frankfurt an der Oder und ein großes am Main gibt. Einige steigen aus und wollen ein paar Tage ausruhen.

Auch Natalja aus Riwne ist über Polen nach Frankfurt (Oder) gekommen – und sie ist gerade wegen der Grenznähe geblieben:

O-Ton 2
„Ende März verließ ich die Ukraine auf der Suche nach einem sicheren vorübergehenden Aufenthaltsort. Zu dieser Zeit war Polen schon mit Flüchtlingen überfüllt, aber Deutschland nahm immer noch Flüchtlinge auf. Frankfurt an der Oder hat eine gute Lage: Die Grenze zu Polen ist hier nah und dementsprechend auch nicht zu weit von der Ukraine entfernt. Ich war angenehm überrascht von der Gastfreundschaft und der Einstellung der Deutschen, die ich traf.“

Sprecher 3
Freiwillige helfen mit ersten Informationen, geben eilig beschaffte Getränke und kleine Snacks aus. Später werden gespendete SIM-Karten hinzukommen, Beutel mit Malsachen und Kuscheltieren, Hygieneartikel und detailliertere Informationen. Die Stadtverwaltung unterstützt das Engagement der Freiwilligen im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Dabei wird jedoch rasch sichtbar, dass wegen vielerlei Zuständigkeiten mal das Land, mal der Bund und nur in wenigen Fällen die Kommune zuständig ist.
Was mich in dieser Zeit besonders beeindruckt hat: der enorme Einsatz freiwilliger Helferinnen und Helfer und die relative Schnelligkeit der deutschen und europäischen Politik, als es um die problemlose Aufnahme und Registrierung der Geflüchteten ging.

MUSIK 3

Sprecher 4
„Gast im Haus – Gott im Haus“ – so lautet ein polnisches Sprichwort. Es erinnert daran, dass wir in einem Gast – oder auch einem Flüchtling! – mehr sehen können als nur den Menschen uns gegenüber. Das Sprichwort ist eine Einladung, unsere Augen zu öffnen für Gottes Gegenwart mitten unter uns.
Die Bibel erzählt davon, dass Josef und Maria keinen Platz fanden – daraus hat sich in der frommen Tradition mit ihren Liedern und Krippenspielen das Motiv der Herbergssuche entwickelt. Und der biblische Autor hatte natürlich genau dies im Sinn: Niemand in Betlehem ist bereit, den Gast aufzunehmen, diese hochschwangere junge Frau, die in ihrem Bauch den Heiland trägt. Und er meint damit: Niemand ist bereit, Gott aufzunehmen.
Für uns als Christen ist das ein Grund mehr, es heute anders zu machen – Gäste aufnehmen, Flüchtlingen Unterkunft geben, Notleidende unterstützen. Doch Gastfreundschaft ist ein Wert, der nicht auf Gläubige beschränkt ist. Ob mit oder ohne religiöse Motivation – in diesem Jahr wurde Geflüchteten äußerst großzügig und unkompliziert geholfen.

Natalja kam privat in Frankfurt unter. Sie sagt:

O-Ton 3
„Meine deutsche Familie, Peter und Sabine ..., und ihre Kinder haben mich sehr herzlich aufgenommen. Sie halfen mir beim Papierkram und stellten mir die Stadt Frankfurt und das kulturelle Leben in Deutschland vor. Ich bin ihnen sehr dankbar für ihre Freundlichkeit, Geduld und Fürsorge.“

Sprecher 5

Viele Ukrainerinnen und Ukrainer wurden von Privatpersonen aufgenommen. Über Wochen und Monate teilten Deutsche und Ukrainerinnen, oft mit Kindern und Jugendlichen, einen Haushalt. Vieles war provisorisch, manches klappte nur deshalb, weil sich informelle Hilfsstrukturen über die sozialen Medien bildeten und einzelne Freiwillige sich mit ungeheurem Aufwand engagierten.
Der aus Kyjw geflohene Ernst berichtet von den Problemen, für sieben Personen eine Wohnung zu finden:

O-Ton 4
„Am Anfang wohnten wir in den Räumen einer Bar, wo es zwei benachbarte Zimmer für uns sieben Personen gab. Das reichte uns erst einmal. Jürgen, der sich um uns gekümmert hat, hat 5 Monate nach einer Wohnung für uns gesucht. Es gab viele Probleme: Das lag an der Registrierung und daran, dass wir als große Familie viel Platz brauchten. Wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben, dass sich eine Wohnung findet. Aber dank Jürgen leben wir jetzt in einer Wohnung unter Bedingungen, die wir uns nicht hätten erträumen lassen. Dank Deutschland haben wir die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Aber wir leben weiter in der Angst, dass dies nicht auf Dauer unsere Realität sein wird und es bald wieder vorbei ist.“

MUSIK 4

Sprecher 6
Inzwischen konnten viele ukrainische Flüchtlinge eine eigene Wohnung finden. Langsam bauen sie sich eine neue Existenz auf.
Doch niemand kann sagen, was für Perspektiven sich daraus ergeben. Ob man sich einrichtet und bleibt, oder ob man in den Startlöchern sitzt, um zurückzukehren – das hängt von sehr vielen Faktoren ab. Die große Politik und der Fortgang dieses schrecklichen Krieges bilden da nur eine Facette. Natürlich stellt sich bei einer Beruhigung der Lage in der Ukraine die Frage, wer dann wo das Sagen hat und wie sicher es dort ist.
Aber viel unmittelbarer wirken andere Faktoren darauf, mit welcher Perspektive jemand auf Bleiben oder Gehen schaut:
Wo sich die restliche Familie befindet. Und in welcher Situation die Männer, Väter, Söhne sind, die nicht ausreisen konnten.
Wie sich die Kinder in deutschen Schulen und Kitas integriert haben.
Und natürlich, welche Perspektiven sich auf dem Arbeitsmarkt ergeben.

Eine ganz besonders wichtige Bedeutung hat dabei die Sprache. Konkret ist es die Frage, ob die deutsche Sprache ein unüberwindliches Hindernis darstellt oder eher leicht von der Hand geht.
Daran entscheidet sich ungeheuer viel.
Ernst erinnert sich an viele Missverständnisse:

O-Ton 5
„Im Deutschen ist die Hälfte der Wörter sehr kompliziert für uns, das gebe ich zu.
Aber vor allem bringt die Sprache einen in unglaubliche Situationen. Es gab da so einige Erlebnisse: Da wird einem alles gesagt, was man gerne hören möchte, und man ist zufrieden, dass sich alles schon ergeben wird.
Und hinterher sagt dir der Übersetzer: Leider hat es nicht geklappt. Und du sagst: ich habe doch alles gehört, die Wörter konnte ich verstehen, dass alles funktioniert. Und dann sagt er dir, dieses kleine Wort am Ende bedeutet, dass sie sich geweigert haben oder dass alles andersherum ist.“

Sprecher 7
Andere nicht richtig zu verstehen oder sich selbst nicht ausdrücken zu können – das hat oftmals zur Folge, dass sich jemand unwohl fühlt oder fremd. Aber sich in der Fremde wohlzufühlen oder die Fremdheit zu überwinden, das ist mit einem enormen Kraftaufwand verbunden.
Gott selbst, so glauben wir Christen, ist an Weihnachten in die radikale Fremde gekommen – in Begrenztheit, in Enge, in Unsicherheit. Auch mitten hinein in die Gefährdungen sprachlicher Probleme.
Denn Gottes Sprache ist eine echte Herausforderung. Sie sorgt unter den Menschen schon immer für Verwirrung – schon die Propheten im Alten Testament, die die Könige Israels im Namen Gottes kritisierten, trafen meist nicht auf offene Ohren, sondern wurden verfolgt.
Und das gilt erst recht für Jesus: Er eckte an mit seiner Sprache. Durch seine Reden brachte er die religiösen Autoritäten der damaligen Zeit, die Pharisäer, gegen sich auf – und selbst seine eigenen Jünger verstanden ihn nicht.
Ein Beispiel aus dem Matthäusevangelium:

Extra 2
„Jesus rief die Leute zu sich und sagte: Hört und begreift: Nicht das, was durch den Mund in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern was aus dem Mund des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. Da kamen die Jünger zu ihm und sagten: Weißt du, dass die Pharisäer, die dein Wort gehört haben, empört sind? Er antwortete ihnen: Jede Pflanze, die nicht mein himmlischer Vater gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. Lasst sie, es sind blinde Blindenführer. Und wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen. Da sagte Petrus zu ihm: Erkläre uns dieses Rätselwort! Er antwortete: Begreift auch ihr noch nicht? Versteht ihr nicht, dass alles, was durch den Mund hineinkommt, in den Magen gelangt und dann wieder ausgeschieden wird? Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen und das macht den Menschen unrein.“

Sprecher 7
Jesus schob die jüdischen Reinheitsvorschriften beiseite und verlagerte das gottgefällige Leben nach innen, in das Herz der Menschen.
Das löste Irritation und Ärger aus. Als wäre es eine Fremdsprache, in der Jesus sprach.
Und seien wir ehrlich, so ist es bis heute: Wir hören gern etwas von Nächstenliebe und Vergebung, aber die anstößigen oder allzu kritischen Stellen der biblischen Botschaft haben ihren Platz ganz hinten. Oder wir überhören sie gleich ganz.

MUSIK 5

Sprecher 8
Natalja besucht inzwischen einen Integrationskurs in Frankfurt (Oder) und sagt:

O-Ton 6
"Die deutsche Sprache ist eine interessante Sprache. Mir gefällt ihr Klang. Die Hauptsache ist ja jetzt, die Sprachbarriere zu überwinden. Manchmal gibt es lange Wörter, die schwer zu lesen sind – und die Aussprache ist noch viel schwieriger. Lange Wörter teile ich mir dann in Gedanken in viele kleine Abschnitte. Aber am anstrengendsten ist es für mich, die Artikel „der, die, das“ richtig zu gebrauchen. Ja, das ist ein echtes Problem. Ich verstehe, dass mein Deutsch manchmal sehr lustig klingt. Und ich weiß zugleich, dass die deutsche Sprache jetzt sehr wichtig für mein Leben ist. Und ich weiß auch, dass ich mehr Angebote auf dem Arbeitsmarkt bekomme, wenn ich die Sprache gut beherrsche.
Ja, und noch ein Traum von mir: Ich wünsche mir, Bücher selbständig auf Deutsch lesen zu können und ihren Inhalt auch zu verstehen.“

Sprecher 9
Selbstständig sein! Ärger vermeiden, der durch Missverständnisse entstehen kann!
Das sind wichtige Motivationen für das Erlernen einer Sprache.
Doch am Anfang fühlen sich die meisten Ukrainerinnen eben nicht selbstständig, sondern eher: ohnmächtig, am Rande stehend, unruhig.

Vielleicht sind Ohnmacht und Unruhe sogar so eine Art Grundgefühle, wenn man gerade in einer fremden Gesellschaft ankommt.
Denn Dinge, die bisher selbstverständlich waren, sind nun unklar: Was pünktlich sein in dieser Gesellschaft bedeutet, ob man und wann man jemandem die Hand gibt, welche Rechte Fremden zugestanden werden, wie man auf Briefe vom Amt reagiert, ...
Das alles erzeugt Ängste und Unsicherheit – auch bei denen, die in ihrer Heimat einen guten gesellschaftlichen Stand hatten, auch bei denen, die vielleicht eine erfolgreiche Karriere hinter sich haben.
Doch in der neuen Umgebung zählen die Kenntnisse aus dem alten Leben nicht mehr.
Denn nach der Ankunft steht eine Neubewertung fast aller Kenntnisse, Talente und Fähigkeiten an.
Als Flüchtling muss man noch einmal ganz von vorn beginnen.

Musik 6

Sprecher 10
Jesus kam in prekären Verhältnissen auf die Welt.
Unterwegs, in einem Viehstall, ohne dass seine hochschwangere Mutter einen ruhigen Ort für die Geburt finden konnte.
Später wird Jesus sagen, dass zwar die Füchse ihre Höhlen haben und die Vögel ihre Nester, dass er jedoch keinen Platz hat, wo er sein Haupt hinbetten kann. (Mt 8,20) Für den Wanderprediger war das Ankommen in der Welt, die häusliche Ruhe und das Sesshaftwerden nichts Erstrebenswertes.
Jesus blieb ein Fremdkörper.
Doch bei aller Fremdheit suchte er doch die Nähe der Menschen. Manche ließen ihn an sich heran, andere wiesen ihn ab.

Auch die meisten der heutigen Flüchtlinge sind in prekärer Lage, fremd in neuen Ländern.  
Gerade jetzt, nach den fürchterlichen russischen Angriffen auf die Stromversorgung, zeigt sich, wie gut sie daran taten, sich früh auf den Weg aus der Ukraine heraus zu machen.
Im Gegensatz zu Jesus haben die meisten von ihnen einen Ort gefunden, an dem sie bleiben können. Ob auf Zeit oder auf Dauer, das wird sich erst noch zeigen.
Planen können sie kaum. Gehen oder bleiben – von allen Seiten zerrt es an ihnen.
Bei aller Fremdheit suchen auch sie die Nähe der Menschen. Manche lassen sie an sich heran, andere weisen sie ab.

Es hängt auch von uns ab, von uns, die wir schon lange in Deutschland leben.
Wir können gastfreundlich sein – oder abweisend.
Wir können unterstützen – oder wegschauen.
Und je nachdem, was wir tun, werden wir so oder so weitergehen durch unser Leben.  
Unser Handeln prägt auch unser Herz. Es prägt die Weise, wie wir zukünftig auf Ankommende schauen.
Unser Handeln gegenüber ukrainischen Flüchtlingen prägt auch die Weise, wie wir auf Gott schauen, der uns oftmals auch fremd vorkommt. Gott klopft ebenfalls bei uns an. Er klopft an unser Herz, er will die Fremdheit überwinden und sucht Herberge bei uns.


Musik 7

 

Wem das alles zu viel ist, der/die findet hier, ganz am Ende, nun auch den Link zur Hörversion:

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