Freitag, 30. Dezember 2022

 Persönliche Zusammenfassung des Jahres 2022

Blick auf die Oder.
Frankfurt (Oder), Ende September 2022.
1.
Das Vorzeichen, unter dem nahezu alles in diesem Jahr für mich stand, war der Krieg Russlands gegen die Ukraine.
Das entsetzliche Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer stand dabei im Vordergrund – aber auch die Frage, wie und wo meine Möglichkeiten sind, dem Grauen etwas Gutes entgegenzusetzen.

2.
Am wichtigsten ist mir die Fortführung des Straßenwörterbuchs in Frankfurt und Słubice geworden. Hier bin ich einer Menge wunderbarer Menschen mit verschiedensten sprachlichen, religiösen und parteipolitischen Hintergründen begegnet. Aber auch beim Bäumepflanzen, beim Beten um den Frieden, bei der Frage, wie Hilfe für Geflüchtete und Daheimgebliebene organisiert werden kann, habe ich gemerkt, was man in dieser Stadt alles tun kann.


3.
Dieses Jahr war auch ein Schleudergang zwischen Beruf, Ehrenamt und Aktivismus.
Außerdem habe ich eine neue Idee von meiner Arbeit bekommen. Ich sehe nun: meine Arbeit als Seelsorger besteht hier und jetzt vornehmlich darin, (zeitweilige oder längerfristige) Verbindungen zu knüpfen, durch die wir gemeinsam diese konkrete Welt hin zu mehr Freundlichkeit und Freiheit gestalten. Christsein als Orthopraxie.
 
4.
Die Kirchenberichterstattung, so bedeutsam sie auch an manchen Punkten war („Out in Church“, Synodaler Weg...), hat mich dagegen nur am Rande erwischt. Viele kircheninterne Fragestellungen haben bei mir angesichts des Krieges an Bedeutung verloren.
Sollte Gottes Botschaft nicht relevanter für die heutige Gesellschaft sein?
Ich bin – und auch mein Verständnis meiner Arbeit ist – insgesamt politischer geworden.

5.
Damit im Zusammenhang steht auch, dass ich meinen Blog (eine kommunikative Einbahnstraße) nahezu aufgegeben habe und mich viel mehr auf Instagram tummele. Das geht von Vernetzung über Nachrichten vom Krieg und aktuellen Veranstaltungen bis hin zum Äußern meiner Gedanken.
Bilder gibt’s auch: oben eins meiner liebsten in diesem Jahr auf meinem Instagram-Account.

6.
Die Lektüre begann in diesem Jahr mit N. Kermanis „Entlang den Gräben“ und endet mit T. Pikettys „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“. Dazwischen haben mich v.a. R. Bregmans „Im Grunde gut“ und K. Gümüsays „Sprache und Sein“ begeistert.  
Mein Interesse an Geschichte, insbesondere die Erinnerung an die Opfer der Shoah, ist angesichts des aktuellen Horrors in Butscha, Cherson, Kramatorsk, Mariupol… in den Hintergrund getreten.
Auch Belletristik war eher Nebensache, dagegen waren Kriegsberichte in Buchform (J. Solska, O. Sabuschko, S. Zhadan) dran.

7.
Lyrik und Filme waren in diesem Jahr sehr weit im Hintertreffen. Seit dem Krieg fällt es mir sehr schwer, mich auf Filme mit erfundenen Dramen einzulassen.
Ukrainische Musik hat mich dagegen in den letzten Monaten zunehmend gepackt: Jerry Heil, всюдисвоя, Oкеан Ельзи, Жадан і собаки und andere.

8.
Vor allem beim Joggen (meistgeliebte Bilder bei Instagram!) habe ich es gesehen: Der Wald leidet. Ebenso wie die Oder in diesem Jahr. Die Klimakatastrophe hat mit Hitze und Trockenheit spätestens jetzt ihren Platz bei uns eingenommen. Das nimmt mich wirklich mit.

9.
Sehr wichtig waren mir die Diskussionen um Krieg und Frieden. Ich habe in diesem Jahr viel gelernt und einige Naivität verloren, dazu zähle ich auch meinen (wahrscheinlich typisch deutschen) Pazifismus. Mich erschrecken zugleich viel Zynismus und Aggression in den Debatten. Frieden ist ein sehr hoher Wert, das lerne ich durch diesen ekelhaften Krieg. Aber ich habe oft den emblematischen Satz im Kopf: „Wenn die Russen aufhören zu kämpfen, wäre der Krieg vorbei, wenn die Ukrainer aufhören zu kämpfen, wird es keine Ukraine mehr geben.“ So wahr und so furchtbar!

10.
Alles in allem ist es erstaunlich (und in gewissem Sinne erschreckend!), wie gut es mir geht. Die Welt brennt und ich sitze satt in meinem Wohnzimmer?! Sicher, meine Gesundheit hat sich in diesem Jahr manchmal anfälliger gezeigt, aber insgesamt kann ich doch sehr zufrieden sein.
Das ist einerseits gut – andererseits Grund genug, mich einzusetzen, dass es anderen auch gut (oder wenigstens besser) geht.

Blick auf die Oder.
Oktober, 2022.


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