Samstag, 12. Juni 2021

Gottes Same in uns. Eine Auslegung zu den Gleichnissen von der selbstwachsenden Saat und vom Senfkorn (Mk 4,26-34)

Rätselfrage: Was beginnt so winzig klein, dass man es beinahe übersehen kann – aber hat doch eine so unglaubliche Kraft in sich, dass es die Welt aus den Angeln hebt?


Wenn Sie jetzt an Corona denken, liegen Sie nicht falsch. Aber im Evangelium des heutigen Sonntags (Mk 4,26-34) vergleicht Jesus das Wachsen der Herrschaft (oder des Reiches) Gottes mit einem Senfkorn und seinem Wachsen zu einem großen Baum – erst winzig und dann riesig.

So wie Corona viel Angst und Sorge, Not und Unglück über die Welt gebracht hat – so will Gott mit seiner Herrschaft eine Welt des Friedens zu uns bringen.


***


Wächst von selbst?
Salat, Rudow, 2021.
Wenn ich hier in der Haftanstalt unterwegs bin, werde ich manchmal von neuen Inhaftierten angesprochen, die mich für einen Sozialarbeiter halten. Ich kläre dann den Irrtum auf und stelle mich vor. Dann ist das Gespräch oftmals vorbei. Sehen wir uns dann das nächste Mal, grüßen wir uns wahrscheinlich. Ab und an frage ich dann auch, wie es so geht. Bei einer weiteren Begegnung kommen wir vielleicht darüber ins Gespräch, was so auf der Station oder im Haus passiert ist. Oder jemand fragt mich, ob ich auch diese oder jene Seelsorgerin aus Moabit oder Tegel kenne. Oder ob ich auch Tabak verteile. Oder ob man bei mir mal telefonieren kann.

Manchmal kommt es vor, dass jemand dann "probeweise" in den Gottesdienst kommt oder ein Gespräch erbittet.

So kann langsam und aus kleinen Episoden eine seelsorgliche Beziehung wachsen. Und aus einer kleinen und zufälligen Begegnung ist auf diese Weise schon einige Male eine Begleitung durch die Höhen und Tiefen des Haftalltags geworden.


Ein solches Wachsen vom ganz Kleinen in etwas Großes kann es auf verschiedenen Ebenen geben, auch im schlechten natürlich. Manchmal reicht schon ein falscher Blick, damit sich eine Beziehung in eine ungünstige Richtung entwickelt.


Gott aber hat Gutes mit uns vor und er beginnt klein:

Gott hat den Samen seiner Herrschaft in diese Welt und in jeden von uns gesät.

In Ihnen, in mir, in jedem Menschen will er sein Reich und seine Herrschaft aufrichten.


Doch was meint er damit?

Jesus spricht in seinen Gleichnissen durchgängig von der "basileia thou theou" – der Gottesherrschaft, oftmals auch übersetzt mit Reich Gottes (beide Übersetzungen sind möglich). Diese Gottesherrschaft ist, wie es der Theologe Gerhard Lohfink ausdrückt, "das Angebot einer unfasslichen Zuneigung und Liebe Gottes."1 Er weist auch darauf hin, dass diese Gottesherrschaft in verschiedenen Spannungen steht:
Obwohl sie Liebe anbietet, droht bei ihrer Verweigerung doch das Gericht.

Sie wird sich nicht erst irgendwann ereignen, sondern schon jetzt – "sie ist nicht über den Wolken und sie wartet nicht irgendwo in der Zukunft." Zugleich aber ist sie noch nicht ganz da, muss noch wachsen und zur vollen Größe reifen.
Außerdem vergleicht Jesus sie mit einem Dieb in der Nacht – sie kommt also gegen Widerstände und "nicht einfach so, wie in der Natur alles heranwächst, heranreift und immer größer und mächtiger wird." Aber zugleich kann Jesus "auch mit Bildern aus der Landwirtschaft sprechen" wie er es im heutigen Evangelium tut.

Einerseits ist "jeder Einzelne ... zum Handeln aufgerufen", damit Gottes Herrschaft eine Realität in der Welt wird – andererseits gilt auch, "dass der Mensch das Reich Gottes nicht selbst herbeiführen kann".2

Alles wächst und gedeiht.
Neukölln, 2020.
Kurz: Wir können Gottes Herrschaft nicht einfach in eine Ecke stellen und sagen: So ist sie. Nein, Jesus verwendet nicht umsonst unzählige verschiedene Gleichnisse, um die Spannung zwischen Jetzt und Dann, zwischen Geschenk durch Gott und Tun des Menschen, zwischen Liebesangebot und Gerichtsandrohung klarzumachen.

Einige dieser Akzente finden sich auch in den heutigen Gleichnissen:

Da ist die Saat, die von selbst wächst und keine menschliche Hilfe benötigt (vv26-28), da ist der unscheinbare Anfang, der zu erstaunlicher Größe heranwächst (vv31-32)


Gottes Herrschaft wächst von allein, nachdem sie einmal ausgesät wurde. Niemand kann einen Baum aus der Erde zwingen – aber wir können ihn pflegen und gießen. So ist es auch mit den Menschen, die ich hier in der JVA treffe: Ich kann keine gute Beziehung herstellen oder befehlen, aber ich kann etwas dafür tun, dass sie wachsen kann.


So kannst du auch Gottes Gegenwart nicht einfach machen – aber du kannst sie in dir pflegen. Du kannst Gott mehr Raum geben in dir (oder eben nicht). Du kannst die Möglichkeit jederzeit ergreifen – einmal mehr verzeihen als du eigentlich wolltest, großzügig sein, wenn einer um Hilfe bittet, einem Ausgegrenzten die Hand reichen, sich im Herzen mit deinen Lieben verbinden, sich nicht wütend in jeden (vermeintlichen oder wirklichen) Skandal hineinsteigern, andere Meinungen zu verstehen suchen. Und so weiter...

So klein beginnt es – und so wächst Gottes Gegenwart in dieser Welt, so wird in unserem Alltag, auch hier im Knast, sein Reich mehr und mehr gegenwärtig.

Und, wie es das Gleichnis vom Senfkorn sagt: Es wird klein beginnen.

Man mag das eben Gesagte unterschätzen – und vielleicht sagen: Das soll schon Anfang des Reiches Gottes sein? Das soll ein Dienst an Gott, ein Gottes-Dienst sein?

Die Antwort auf diese Fragen ist: Ja. Ja, so unscheinbar und klein beginnt es. So leicht zu unterschätzen, dass wir vielleicht die Gewalt und die Macht für größer oder sogar für besser halten als die Liebe und die Vergebung. Dass wir die Freundlichkeit und Höflichkeit für unpassender halten als das Drängeln und Motzen.

Aber wenn wir Gottes Herrschaft wirklich wachsen lassen in uns, dann wächst auch Liebe und Bereitschaft zur Vergebung, dann wachsen Freundlichkeit und zugleich Klarheit, dann wachsen Frieden und Freude. Eierkuchen dürfen später auch dazukommen.

Das sagt das Evangelium, wenn es davon spricht, dass in diesem Baum, der aus dem winzigen Senfkorn gewachsen ist, "die Vögel des Himmels nisten können." (v32)

In diesem Reich Gottes kann man "nisten", sich also niederlassen, ausruhen; viele verschiedene "Vögel" oder Charaktere haben darin Platz, es ist eine einladende und angenehme Atmosphäre.

Ich lade Sie heute ein, dieses Senfkorn, das Gott in Sie hineingesät hat, wachsen zu lassen, damit das Reich Gottes auch in ihrem Leben und durch Sie mehr und mehr erfahrbar wird.

 

1   G. Lohfink, Die vierzig Gleichnisse Jesu. Freiburg i.Br. 2020, 282.
2
   Vgl. alle Zitate ebd., 280.281.

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