Sonntag, 19. September 2021

Gott liebt biographische Brüche. Zwei Notizen zum Sonntagsevangelium

 Ich habe nun meine neue Stelle angefangen. Damit geht einher, dass ich mich seit drei Wochen immer wieder vorstellen muss. Jedes Mal frage ich mich im Hinterkopf, wie sehr ich mich selbst in ein gutes Licht rücken will und welche Aspekte meiner Biographie ich dafür stark mache. Und natürlich überlege ich auch ab und zu, ob ich strategisch zurückhaltend sein will, natürlich in der (mindestens halbbewussten) Hoffnung, dass jemand mehr wissen möchte und nachfragt.

Damit tappe auch ich in die Falle der Jünger des heutigen Evangeliums, die sich streiten, wer von ihnen der Größte sei und denen von Jesus entgegengehalten wird, dass die Ersten die Letzten sein werden (Mk 9,30-37).

Runtergekommen und aufgebrochen.
Bad Muskau, 2020.
Zwei Dinge sind mir gerade deshalb wichtig:

1

Die implizite Aufforderung, sich selbst nicht an die erste Stelle zu stellen, hat mehrere Dimensionen: soziale, ethische, politische, psychologische und so fort. Aber es geht daneben auch um die explizit religiöse Haltung, die Jesus an vielen anderen Stellen wichtig ist und die hier vielleicht so ausbuchstabiert werden kann: Wie stehe ich vor Gott da? Welche Aspekte meines Lebens zeige ich ihm? Wo drängle ich mich bei ihm vor?
Und meine Schlussfolgerung ist angesichts der genannten Aussage Jesu: Gott liebt besonders jene, die sich vor ihm nicht aufplustern und schöner machen als sie sind. Gott liebt besonders jene, die nicht versuchen, andere beiseite zu schieben, um bei ihm zu sein – für das interkonfessionelle und interreligiöse Gespräch sicher eine wichtige Erwägung. Aber auch für den Blick auf die verschiedenen Spiritualitäten innerhalb der eigenen Tradition. Gott liebt uns gerade dann, wenn wir auch hier nicht versuchen, die Größten zu sein.


2
Wenn jemand Erste sein will und dafür Letzte werden soll, braucht es einen Bruch im Selbstbild. Ambition und Profilierungsfreude müssen gewandelt werden.
Manchen Leuten passiert das ja ganz von selbst, wenn sie in ihrer Biographie nicht einen geraden Weg gehen (können), sondern an einer Stelle kräftig auf die Bremse treten und abbiegen müssen. Wo das geschieht, bewegt sich jemand ganz schnell vom ersehnten Platz – als Ehemann, Arbeitnehmerin, Bundestagabgeordneter oder, in meinem Fall, Ordenschrist – auf einen anderen Platz, der nicht urspünglich angezielt war.
Und das liefert mir eine neue Lesart des genannten Satzes Jesu: Es ist gar nicht schlimm, sondern sogar wünschenswert, vom vermeintlich besten ersten auf den vermeintlich schlechteren zweiten oder letzten Platz zu rutschen.


Ich danke Gott also für meine biographischen Brüche – und lasse sie in die Vorstellungsrunden sanft mit einfließen. Außerdem bitte ich ihn um eine Spiritualität, die sich nicht vordrängelt, sondern andere Formen der Gottesverehrung wertschätzend im Blick behält.


1 Kommentar:

  1. Es ist sehr schön, dass es deine wertvollen Impulse auch vom neuen Wirkort aus gibt. Dankeschön. Und liebe Grüße aus Neukölln.

    AntwortenLöschen