Dienstag, 15. März 2022

Gäste aus der Ukraine. Ein kurzer Erlebnisbericht nach einer Woche

Am Bahnhof mit Sonderzug.
Frankfurt/Oder, 2022.
Während die schrecklichen Kriegsbilder weiter über meine Bildschirme flackern und während am Bahnhof von Frankfurt weiter ausgelaugte Frauen und Kinder ankommen, umsteigen und durchfahren, haben wir nun schon eine Woche Gäste aus einer Stadt am Dnjepr bei uns aufgenommen.
Am 08. März habe ich bei meinem ehrenamtlichen Einsatz auf dem Bahnhof eine Frau mit ihrem 17jährigen Sohn, die nicht weiterfahren wollten, eingeladen, vorerst bei uns zu bleiben. Und so sind wir nun zwei mehr in unserer Wohnung.


1
Wohnraum ist genug da.
Trotz unserer vorher mit den Kindern abgesprochenen Bereitschaft zur Aufnahme einer ukrainischen Familie war der Einzug dann doch etwas spontan, wir mussten noch ein wenig umräumen und haben mehr Platz geschaffen.
Die anderthalb abgegebenen Zimmer sind so gelegen, dass alle, die es wollen, ihre Ruhe haben können.
Unsere Kinder haben sich neu eingerichtet und schlafen vorerst lieber gemeinsam im elterlichen Schlafzimmer als im zweiten Kinderzimmer, so sind sie ein bisschen weiter entfernt von den Gästen. Das scheint ihnen wichtig zu sein, da ich aktuell der einzige bin, der einigermaßen flüssig mit ihnen kommunizieren kann. Denn so hatten sich die Kinder das natürlich nicht vorgestellt: der Wunsch war eher ein oder zwei kleine Mädchen als Spielkameradinnen zu haben. Nun haben wir stattdessen einen fast erwachsenen Jungen bei uns.
Außerdem ist schon nach einer halben Woche klar gewesen, dass es zusätzlichen Rückzugsraum für die Kleine braucht, die ihr Zimmer erst noch begeistert zur Verfügung gestellt hat und nach und nach merkte, was es wirklich bedeutet, das eigene Zimmer aufzugeben. Immerhin gab es am Freitag als Kompensation – und als Dank für ihre Gastfreundschaft – schon einen Gang ins Spielwarengeschäft und dort eine Puppenfamilie für jedes Kind. Das wirkte sehr beruhigend – und weckte gleich Wünsche auf die nächsten Gäste und die zu erwartenden Kompensationen…

2
Die Situation ist ein bisschen irreal: Man kennt sich nicht. Versteht sich nur schwer. Es gibt nur wenige Absprachen, vor allem unsere Einladungen, sich zu bedienen und alles zu nutzen. Und trotzdem lebt man auf engstem Raum zusammen wie sonst nur mit der Kernfamilie.
Aber nach einer Woche gewöhnt man sich aneinander, kleine Rituale und Abläufe bilden sich aus.
Zugleich anerkenne ich das Bedürfnis der Gäste, nicht nur von uns und unseren Lebensmitteln zu leben. Uns beim morgendlichen Aufbruch in Schule und Kita nicht im Weg zu sein. Nicht auf unsere Kosten und von unserer Zeit zu leben.
Sie haben in Polen eingekauft und essen gern zu ihren Zeiten die Dinge, die sie sich von dem mitgebrachten Geld gekauft haben. Mein Geldangebot liegt weiterhin unter der Kaffeedose in der Küche.
Trotzdem sind sie derzeit angewiesen darauf, dass ich Termine bei der Ausländerbehörde vereinbare, mitgehe und dolmetsche, dass ich bei der Impfung dabei bin und übersetze, dass ich beim Kauf der SIM-Karten dabei bin und übersetze, dass ich beim Versuch, Hrywni zu tauschen, (erfolglos) unterstütze, dass ich bei der Anmeldung für den Sprachkurs helfe...
Zum Glück gibt es vielfältige Hilfsangebote in der Stadt und die Möglichkeit, sich zu vernetzen. So waren beide schon bei einem Treffen neu angekommener ukrainischer Familien gleich um die Ecke. Und kamen mit vielen neuen Informationen und Kontakten wieder. Außerdem sind sie jetzt fast jeden Tag am Bahnhof gewesen, um ihren Landsleuten mit Informationen und Lebensmitteln bei der Weiterreise zu helfen.
Das finde ich bewundernswert – und auch sehr nachvollziehbar. Anstatt nur herumzusitzen, wollen sie etwas tun – und dort können sie es, im Kontakt mit anderen Geflüchteten, mit Dolmetschern, durch ihre praktische Hilfe.
Ein echtes Highlight war das gemeinsame Essen im Restaurant am Sonntagmittag, entspannt, lustig und mit viel lockerem Gespräch.
Noch ist der Krieg nicht zu ihrer in der Ukraine zurückgebliebenen Familie gekommen. Was das dann für sie verändert, vermag ich noch nicht zu denken.

3
Ich selbst muss mich immer mehr entscheiden: wo investiere ich Energie in meine hauptberufliche Tätigkeit (die während der vorlesungsfreien Zeit sehr reduziert ist), wo vernetze ich mich auf anderen Ebenen mit lokalen AkteurInnen, um strukturell zu unterstützen, wo bringe ich mich nah bei den ankommenden Menschen am Bahnhof ein, wo unterstütze ich meine Gäste…
Eine langfristige Perspektive über Wohnraum hinaus können wir unseren Gästen kaum bieten, dafür reichen unsere Ressourcen nicht - außerdem stellt sich die Frage, was überhaupt werden soll. Über all unserem derzeitigen Engagement schwebt die Unsicherheit, wie es weitergehen soll. Das weiß niemand.
Meine Hilflosigkeit angesichts dieses furchtbaren (und für die Zivilbevölkerung immer furchtbarer werdenden Krieges) ist weiterhin vorhanden. Jemanden aufzunehmen ändert daran nichts. Aber es gibt mir das Gefühl, wenigstens einen kleinen sinnvollen Beitrag zu leisten.

Und es geht trotz einiger Anstrengung alles erstaunlich gut.

Ich bete mehr als sonst.


Zugleich zeigt sich die Natur von ihrer besten Seite...
Morgenstimmung an der Oder, 2022.

1 Kommentar:

  1. Allen Beteiligten wünsche ich viel Kraft für dieses Zusammenleben. Chapeau!

    Werner Rauch

    AntwortenLöschen