Sonntag, 25. Januar 2015

Ausrottung und Würde – Gedanken zum Holocaust und seinen Opfern

Die Zeitungen sind voll von diesem Thema, jetzt, da sich der Tag der Befreiung von Auschwitz zum siebzigsten Mal jährt und nur wenige Zeitzeugen noch leben. In mir kommen eine Menge Gedanken wieder, vor allem wenn ich auf mein Jahr Freiwilligendienst mit ehemaligen Häftlingen in der Westukraine vor 13 Jahren zurück schaue – und darauf, wie ich seitdem von diesen Erfahrungen geprägt bin.

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Denn was hat das Thema eigentlich mit mir und meiner Generation zu tun? Eine deutsche kollektive Erbschuld vermuten wir nicht, wohl aber eine Verantwortung gegenüber dem Geschehenen. 

Äquator, Lemberg, 2001.
Bei Thomas Mann fand ich vor kurzem eine äußerst passende sprachspielerisch-existenzielle Reflexion zu diesem persönlichen Angesprochensein von der Geschichte:
"Geschichte ist das Geschehene und was fort und fort geschieht in der Zeit. Aber so ist sie auch das Geschichtete und das Geschicht, das unter dem Boden ist, auf dem wir wandeln, und je tiefer die Wurzeln unseres Seins hinabreichen ins unergründliche Geschichte dessen, was außer- und unterhalb liegt der fleischlichen Grenzen unseres Ich, es aber doch bestimmt und ernährt, so dass wir in minder genauen Stunden in der ersten Person davon sprechen mögen und als gehöre es unserem Fleische zu, - desto innig-schwerer ist unser Leben ..."1
Vielleicht ist es tatsächlich ein wenig so, dass unser Hineingehen in die Geschichte einfach dem entspricht, wie es sowieso ist, nämlich von dem Geschehenen bestimmt zu sein und sich involvieren lassen, ganz so, als gehöre es zu meinem persönlichen Leben.

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Einer von Ilja Trojanows Protagonisten meint im Roman "Eistau" sarkastisch: "Wir ehren die Ausgestorbenen, wir stellen ihre Masken aus, und Porträts von ihnen in Sepia, hingebungsvoll kümmern wir uns um jene, die wir ausgerottet haben"2
Das wäre kein gutes Zeugnis für die Motivation beim Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus, scheint sie doch in bloß nachträglicher Fürsorge zu bestehen. Erst die Tatsache, dass sie Opfer unseres eigenen Tuns sind, macht sie augenscheinlich wert, dass wir uns ihrer erinnern. Dabei ließe sich das Wunder des Lebens in jedem Menschen erkennen, so schwer es auch manchmal fällt. 
Ehemaliges Schwimmbad, Lemberg, 2001.
Ich bekenne, dass ich viel naiver war und mit einem sehr unbestimmten flauen Gefühl und dem Wunsch, irgendetwas Gutes zu tun, auf meine Aufgabe zuging. Schuldbewusstsein bezüglich der eigenen, d.h. deutschen Geschichte hatte ich nicht, wohl aber Respekt vor dem Leiden derer, die mir da begegnen würden.

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Der Wunsch, zu anderen gut zu sein, wurde recht bald abgelöst von der Hilflosigkeit angesichts der fremden Sprache, der Unfähigkeit, leicht eine sinnvolle Hilfe zu leisten und der Abhängigkeit vom Wohlwollen derer, die wir da besuchten. So merkte ich, dass das Gutes-Wollen auch darin bestehen konnte, sich bekochen zu lassen. Eine Frau, die das Frauen-KZ Ravensbrück überlebt hatte, bestand darauf, jeden Freitag, wenn wir kamen, für uns zu kochen, da sie sonst niemanden habe, für den sie dies tun könne. Beim Kochen zu helfen und dann fleißig zu essen, während sie un zufrieden beobachtete, wurde zu einer (meist bekömmlichen) Aufgabe, die bemäntelt wurde von Gesprächen, was demnächst irgendwann noch in der Wohnung getan werden müsste – aber erst beim nächsten Mal... 
Die Möglichkeiten, zur Würde zu helfen, sind vielleicht begrenzt und oft zwar bemüht, jedeoch nicht angemessen – aber sie sind vorhanden. Manchmal reicht es, gemeinsam zu essen.

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Wie lebt man weiter nach dem Überleben? Mein Eindruck war, dass die Erfahrung der Gewalt Menschen sehr unterschiedlich prägen kann – eine Frau spricht nie davon, was sie in den Lagern erlebte, einer sprudelt nur so davon über, eine andere Frau sitzt an der Ecke ihres Tisches und zeigt uns bei jedem Besuch an der Tischkante, wie viel Brot sie täglich bekam, ein Mann versinkt in Depression, eine Frau findet Halt bei den Zeugen Jehovas und versucht auch uns davon zu überzeugen.
Die Menschen, die wir trafen, sind keineswegs repräsentativ, denn ich lernte zumeist nur die kennen, die auch bereit waren, mit uns zu reden und sich besuchen zu lassen. Die Aggressionen, die ich gegen mich als jungen Deutschen erwartete, erlebte ich nicht. Aber anderswo gab es sie, nämlich zwischen den ehemaligen Häftlingen: "Der war doch nur zwei Wochen in Stutthof" – der bisweilen spürbare Neid oder das Bedürfnis, anderen gegenüber gut dazustehen, verwunderten mich. Aber ich habe gemerkt: so nötig ist die Anerkennung des eigenen Leidens, dass dafür auch das Leid anderer geschmälert wird – wie bekannt, wie verständlich und wie menschlich das ist!
Das eigene Leben nach der Befreiung auszuhalten und mit dem zuweilen aufkommenden Gefühl von Schuld angesichts des eigenen Überlebens bei all den Toten um einen herum zurechtzukommen, kann eine immense Leistung sein.

Frieden an der Wand. Sychiw, Lember, 2001.
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Am 27. Januar 2005 fuhr ich von Krakau nach Auschwitz und besuchte die Gedenkfeierlichkeiten zum 60. Jahrestag in Birkenau bei eisiger Kälte. Die Vertreter der Befreier und der Befreiten waren da und sprachen, teils stellvertretend für die Opfer, teils als Repräsentanten ihrer Nationen und Ethnien – Wladyslaw Bartoszewski, Horst Köhler, Silvio Berlusconi, Wiktor Juschtschenko, Wladimir Putin, Jaques Chirac, Romani Rose, Dick Cheney und viele andere waren anwesend.
Nach dem Ende der Zeremonie fuhren die Limousinen der Staatenlenker und anderen großen Akteure in langer Schlange davon. Alles wurde angehalten und abgesperrt, die Gruppen ehemaliger Häftlinge mussten in und vor ihren Bussen darauf warten, dass auch sie fahren könnten. 
 Eine absurde Situation, wenn vor den Toten gekniet wird, die Überlebenden aber, die lebendigen Menschen, plötzlich wieder im Abseits stehen, weil die Mächtigen sicher und schnell fort müssen.
Vor was haben sie sich da geneigt, wessen haben sie gedacht?

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Als ich einmal das Stammlager des KZ Auschwitz besuchte, sah ich, wie dort die Fensterbänke der ehemaligen Häftlingsbaracken gestrichen wurden. Ein seltsamer Anblick! Die grauenhaften Zeugnisse vieltausendfachen Mordes wieder herzurichten, damit der Eindruck nachvollziehbar bleibt. Damit nicht zerfällt, was uns beim Erinnern hilft. 
Auch das ist eine Form der Würdigung der Opfer. Dass ihr Leben, das ausgerottet werden sollte, dass ihr Überleben uns weiterhin entscheidende Fragen stellt:
Auf welchen Geschichten stehen wir – Wo können wir das Wunder des Lebens entdecken – Wie bewahren wir Würde – Was richtet die Gewalt an - Wovor knien wir


1   T. Mann, Joseph und seine Brüder. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2013, 135.


2   I. Trojanow, Eistau. München 2011, 15.