Die Zeitungen sind voll von diesem
Thema, jetzt, da sich der Tag der Befreiung von Auschwitz zum
siebzigsten Mal jährt und nur wenige Zeitzeugen noch leben. In mir
kommen eine Menge Gedanken wieder, vor allem wenn ich auf mein Jahr
Freiwilligendienst mit ehemaligen Häftlingen in der Westukraine vor
13 Jahren zurück schaue – und darauf, wie ich seitdem von diesen
Erfahrungen geprägt bin.
1
Denn was hat das Thema eigentlich mit
mir und meiner Generation zu tun? Eine deutsche kollektive Erbschuld
vermuten wir nicht, wohl aber eine Verantwortung gegenüber dem
Geschehenen.
Äquator, Lemberg, 2001. |
Bei Thomas Mann fand ich vor kurzem
eine äußerst passende sprachspielerisch-existenzielle Reflexion zu
diesem persönlichen Angesprochensein von der Geschichte:
"Geschichte ist das Geschehene
und was fort und fort geschieht in der Zeit. Aber so ist sie auch das
Geschichtete und das Geschicht, das unter dem Boden ist, auf dem wir
wandeln, und je tiefer die Wurzeln unseres Seins hinabreichen ins
unergründliche Geschichte dessen, was außer- und unterhalb liegt
der fleischlichen Grenzen unseres Ich, es aber doch bestimmt und
ernährt, so dass wir in minder genauen Stunden in der ersten Person
davon sprechen mögen und als gehöre es unserem Fleische zu, - desto
innig-schwerer ist unser Leben ..."1
Vielleicht ist es tatsächlich ein
wenig so, dass unser Hineingehen in die Geschichte einfach dem
entspricht, wie es sowieso ist, nämlich von dem Geschehenen bestimmt
zu sein und sich involvieren lassen, ganz so, als gehöre es zu
meinem persönlichen Leben.
2
Einer von Ilja Trojanows Protagonisten
meint im Roman "Eistau" sarkastisch: "Wir ehren die
Ausgestorbenen, wir stellen ihre Masken aus, und Porträts von ihnen
in Sepia, hingebungsvoll kümmern wir uns um jene, die wir
ausgerottet haben"2
Das wäre kein gutes Zeugnis für die
Motivation beim Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus,
scheint sie doch in bloß nachträglicher Fürsorge zu bestehen. Erst
die Tatsache, dass sie Opfer unseres eigenen Tuns sind, macht sie
augenscheinlich wert, dass wir uns ihrer erinnern. Dabei ließe sich
das Wunder des Lebens in jedem Menschen erkennen, so schwer es auch
manchmal fällt.
Ehemaliges Schwimmbad, Lemberg, 2001. |
Ich bekenne, dass ich viel naiver war
und mit einem sehr unbestimmten flauen Gefühl und dem Wunsch,
irgendetwas Gutes zu tun, auf meine Aufgabe zuging. Schuldbewusstsein
bezüglich der eigenen, d.h. deutschen Geschichte hatte ich nicht,
wohl aber Respekt vor dem Leiden derer, die mir da begegnen würden.
3
Der Wunsch, zu anderen gut zu sein,
wurde recht bald abgelöst von der Hilflosigkeit angesichts der
fremden Sprache, der Unfähigkeit, leicht eine sinnvolle Hilfe zu
leisten und der Abhängigkeit vom Wohlwollen derer, die wir da
besuchten. So merkte ich, dass das Gutes-Wollen auch darin bestehen
konnte, sich bekochen zu lassen. Eine Frau, die das Frauen-KZ
Ravensbrück überlebt hatte, bestand darauf, jeden Freitag, wenn wir
kamen, für uns zu kochen, da sie sonst niemanden habe, für den sie
dies tun könne. Beim Kochen zu helfen und dann fleißig zu essen,
während sie un zufrieden beobachtete, wurde zu einer (meist
bekömmlichen) Aufgabe, die bemäntelt wurde von Gesprächen, was
demnächst irgendwann noch in der Wohnung getan werden müsste –
aber erst beim nächsten Mal...
Die Möglichkeiten, zur Würde zu
helfen, sind vielleicht begrenzt und oft zwar bemüht, jedeoch nicht
angemessen – aber sie sind vorhanden. Manchmal reicht es, gemeinsam
zu essen.
4
Wie lebt man weiter nach dem Überleben?
Mein Eindruck war, dass die Erfahrung der Gewalt
Menschen sehr unterschiedlich prägen kann – eine Frau spricht nie
davon, was sie in den Lagern erlebte, einer sprudelt nur so davon
über, eine andere Frau sitzt an der Ecke ihres Tisches und zeigt uns
bei jedem Besuch an der Tischkante, wie viel Brot sie täglich bekam,
ein Mann versinkt in Depression,
eine Frau findet Halt bei den Zeugen Jehovas und versucht auch uns
davon zu überzeugen.
Die Menschen, die wir trafen, sind
keineswegs repräsentativ, denn ich lernte zumeist nur die kennen,
die auch bereit waren, mit uns zu reden und sich besuchen zu lassen.
Die Aggressionen, die ich gegen mich als jungen Deutschen erwartete,
erlebte ich nicht. Aber anderswo gab es sie, nämlich zwischen den
ehemaligen Häftlingen: "Der war doch nur zwei Wochen in
Stutthof" – der bisweilen spürbare Neid oder das Bedürfnis,
anderen gegenüber gut dazustehen, verwunderten mich. Aber ich habe
gemerkt: so nötig ist die Anerkennung des eigenen Leidens, dass
dafür auch das Leid anderer geschmälert wird – wie bekannt, wie
verständlich und wie menschlich das ist!
Das eigene Leben nach der Befreiung
auszuhalten und mit dem zuweilen aufkommenden Gefühl von Schuld
angesichts des eigenen Überlebens bei all den Toten um einen herum
zurechtzukommen, kann eine immense Leistung sein.
Frieden an der Wand. Sychiw, Lember, 2001. |
5
Am 27. Januar 2005 fuhr ich von Krakau
nach Auschwitz und besuchte die Gedenkfeierlichkeiten zum 60.
Jahrestag in Birkenau bei eisiger Kälte. Die Vertreter der Befreier
und der Befreiten waren da und sprachen, teils stellvertretend für
die Opfer, teils als Repräsentanten ihrer Nationen und Ethnien –
Wladyslaw Bartoszewski, Horst Köhler, Silvio Berlusconi, Wiktor
Juschtschenko, Wladimir Putin, Jaques Chirac, Romani Rose, Dick
Cheney und viele andere waren anwesend.
Nach dem Ende der Zeremonie fuhren die
Limousinen der Staatenlenker und anderen großen Akteure in langer
Schlange davon. Alles wurde angehalten und abgesperrt, die Gruppen
ehemaliger Häftlinge mussten in und vor ihren Bussen darauf warten,
dass auch sie fahren könnten.
Eine absurde Situation, wenn vor den
Toten gekniet wird, die Überlebenden aber, die lebendigen Menschen,
plötzlich wieder im Abseits stehen, weil die Mächtigen sicher und
schnell fort müssen.
Vor was haben sie sich da geneigt,
wessen haben sie gedacht?
6
Als ich einmal das Stammlager des KZ
Auschwitz besuchte, sah ich, wie dort die Fensterbänke der
ehemaligen Häftlingsbaracken gestrichen wurden. Ein seltsamer
Anblick! Die grauenhaften Zeugnisse vieltausendfachen Mordes wieder
herzurichten, damit der Eindruck nachvollziehbar bleibt. Damit nicht
zerfällt, was uns beim Erinnern hilft.
Auch das ist eine Form der Würdigung
der Opfer. Dass ihr Leben, das ausgerottet werden sollte, dass ihr
Überleben uns weiterhin entscheidende Fragen stellt:
Auf welchen Geschichten stehen wir –
Wo können wir das Wunder des Lebens entdecken – Wie bewahren wir Würde
– Was richtet die Gewalt an - Wovor knien wir
1 T.
Mann, Joseph und seine Brüder. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2013, 135.