Mittwoch, 19. Februar 2014

Die Ukraine – Eindrücke aus einem eigenwilligen Land

Ach, die Ukraine! Ach, die Ukrainer!
Seit dreizehn Jahren nehme ich inneren Anteil an dem, was in diesem Land „am Rande“ Europas passiert. Immer wieder bin ich seit 2001 hingereist, weil es mich zieht, weil das Land in seiner Zerrissenheit und Ungleichzeitigkeit mich fasziniert. Einige Eindrücke:

Hausbemalung, Sychiw, Lemberg, 2001.
2001-2002
Während eines Freiwilligendienstes besuche ich ehemalige KZ- und Gulag-Häftlinge zu Hause – auf diese Weise komme ich mit alten Menschen und ihren äußerst ärmlichen Lebensumständen in Kontakt. Die Gewalterfahrungen unter den Deutschen stehen für die Mehrzahl ganz zurück hinter der als Okkupation empfundenen Sowjetzeit, die für viele in Armut endete. Für die Einreise in die Ukraine benötigt man ein Visum und viel Geduld beim Grenzübertritt. Die Stadt L'viv (Lemberg, Lwów, Lvov) erscheint mir als ein fast surrealer Mix aus postsowjetischer Nachlässigkeit, polnischen Sehnsüchten und habsburgischer Architektur. Viele Patrioten erklären mir, wie die „Moskalcy“ um Leonid Kutschma im Osten ihr Land beherrschen wollen und dabei noch nicht einmal richtig ukrainisch sprechen können. 

Hände aus Beton, Lemberg, 2001.

2004
Mit Freunden geht es Anfang März durchs Land – auch nach Ziuropinsk am Schwarzen Meer, unter anderem zu Besuch in einem Behindertenkinderheim, in dem Bekannte arbeiten. Es zeigt sich wie bei den Alten, dass diejenigen in der Ukraine vergessen sind, die keine Lobby haben. Mehr als bloße Verwahrung ist bei den personellen und finanziellen Lücken nicht möglich. Schwer erträglich! Dasselbe gilt für die militärischen Vorlieben vieler Ukrainer. Nicht nur die monumentalen Siegessymbole aus der Sowjetzeit prägen das Land, auch die Präsenz von militärisch Uniformierten fällt mir wieder auf. Nach der Unabhängigkeit 1991 war es ein wichtiges Ziel, möglichst rasch eine funktionierende Armee aufzustellen, damit Russland nicht seine noch bestehende militärische Macht nutzen konnte, um die Befreiungsbestrebungen zu torpedieren.


Heiliger Andreas, Blick über den Dnjepr,
Kiew, 2002.
2005
Nachdem ich die „Orangene Revolution“ von Lublin in Ostpolen aus beobachtet habe, geht eine Reise von Lemberg aus gen Osten und Süden. Der Grenzübertritt erfolgt zum Ausprobieren mal zu Fuß, viele Schmuggler wundern sich, was wir da machen. Übernachtungen werden vor Ort von am Bahnhof stehenden Babuschkas gemietet, so finden wir viele schöne Orte nahe bei den Lebensumständen der Menschen. Die Gästewohnungen gehören dabei oft den Kindern oder anderen Verwandten, die in „Europa“ arbeiten. Die Information, dass es auch in Deutschland Arbeitslosigkeit und Alkoholismus gibt, wird eher ungläubig zur Kenntnis genommen. Im Westen des Landes herrscht unter Präsident Wiktor Juschtschenko eine kurze euphorische Aufbruchsstimmung.


2008
Für ein einmonatiges Experiment arbeite ich mit einem Jesuiten zunächst in einer Tagesstätte für behinderte Kinder und Jugendliche, dann gehen wir auf einen einwöchigen Pilgerweg von Lemberg in ein nahegelegenes orthodoxes Kloster. Das Betteln und die Fußmärsche machen uns zwar nicht vertrauensvoll, aber trotzdem bekommen wir überall Essen und Möglichkeiten der Übernachtung geboten. Die politische Zerrissenheit der Konfessionen bietet dabei ein Bild des Jammers – während in der Sowjetunion nur die russisch-orthodoxe Kirche erlaubt war, gibt es seit der Eigenstaatlichkeit nicht nur die mit Rom unierte Griechisch-Katholische Kirche wieder, sondern auch noch drei orthodoxe Kirchen, die sich gegenseitig den Vorrang streitig machen wollen. Auf den Dörfern ist dies eine heikle Frage, auch bezüglich der Eigentumsverhältnisse von Grundstücken.

Kopf unter Balkon, Lemberg, 2008.

2010
Einmal bin ich mit zwei Jesuiten auf Urlaub und einmal mit Schülern der Oberstufe im Land unterwegs. Klar wird mir auf der ersten Reise, dass auch eine Menge Vietnamesen hier arbeiten, vor allem im Osten, in Kiew, Odessa und Donezk. Unter schwierigen sprachlichen und sozialen Voraussetzungen haben sie aber auch in einem der ärmsten Länder Europas und vor den Toren der EU noch die Möglichkeit, Geld nach Hause zu schicken. Mit den Schülern besuchen wir unter anderem ein Flüchtlingsheim der Jesuiten. Viele Tschetschenen und Afghanen stranden auf ihrem Weg nach einem besseren Leben in der Ukraine – können schwer weiter und wollen nicht zurück.

Ich bete für die Ukraine und für die Ukrainer in diesen stürmischen Tagen. Politische Kultur und demokratische Umgangsformen müssen sich auch unter diesen Umständen weiter entwickeln.
Mit den Worten eines großen deutschsprachigen Dichters, Paul Celan, der in Czernowitz, in der heutigen Ukraine geboren wurde:

Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,
dass der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, dass es Zeit wird.1

Himmel über Kiew, 2010.

1   Paul Celan, Corona; zit. nach: Paul Celan, Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Frankfurt a.M. 1967, 17.