Der
alleinstehende Herr Jensen steckt nach seiner Entlassung in einer
Lebenskrise. Zum einen hat er sein Studium nicht abgeschlossen, da er
sich nach und nach immer mehr auf seinen ursprünglich zur
Finanzierung des Studiums begonnenen Job als Postbote konzentrierte
und nun ohne Ausbildung oder Beruf da steht, zum anderen, weil ihm
nur wegen seiner langanhaltenden Tätigkeit gekündigt wird, und er
fest übernommen werden müsste, was sich die Firma nicht leisten
kann. Dergestalt vom Arbeitsmarkt ausgespuckt beginnt er, wie viele
Menschen mit seinem Schicksal, exzessiv fernzusehen. Nach und nach
durchsucht der pedantische und ordnungsliebende Einzelgänger das
Fernsehprogramm nach einem versteckten Sinn, zeichnet auf,
vergleicht, notiert, führt Listen. Plötzlich kommt ihm die
Erkenntnis:
Ist das normal? Schloßpark Lübbenau, 2015. |
"Das Ganze war
keine zufällige Laune. Alles gehörte zusammen. Die dicken Frauen in
Unterwäsche und die unbeholfenen Tanzversuche nuschelnder
Jugendlicher. Es ging um moralische Normen. Doch während man diese
früher in Kursen erlernen oder in Benimmbüchern nachschlagen
konnte, wurden sie nun auf diese vollkommen andere Art vermittelt.
Früher war einem gesagt worden, wie man zu leben hatte. In den
Sendungen, die Herr Jensen in den letzten Monaten studiert und
analysiert hatte, konnte man statt dessen sehen, wie man nicht mehr
leben durfte. Darum war es auch möglich, dass dieselben Menschen
immer andere extreme Standpunkte vertraten. Sie dienten nur als
Mensch gewordene schlechte Beispiele."1
Ich finde eine solch
ironische Interpretation der Medienlandschaft sehr unterhaltsam –
nicht, wie man eigentlich leben sollte, wird gezeigt, sondern gerade
das Gegenteil. Soziale Atomisierung und nachlassende Prägekraft gesellschaftstragender Institutionen hinterlassen ein Vakuum, das irgendwie gefüllt werden muss. Die negativ vermittelten Normen des Fernsehens formuliert Herr Jensen aber
auch positiv:
"Und er schrieb
auf einen Zettel, was demzufolge normal sein sollte:
Man sollte arbeiten
gehen.
Man sollte eine Frau
oder zumindest häufig Sex haben.
Man sollte viele
Freunde haben.
Man sollte die aktuelle
Mode kennen.
Man sollte Ahnung von
Musik haben.
Man sollte fröhlich
sein.
Man sollte Geld haben.
Man sollte schön sein.
Man sollte etwas mit
sich anfangen.
Man sollte Träume
haben.
Herr Jensen stellte
fest, dass er nicht normal war. Er seufzte erschöpft. Herr Jensen
konnte sich nicht erinnern, jemals etwas falsch gemacht zu haben.
Stets hatte er getan, was ihm gesagt worden war, und niemals war er
rebellisch geworden. Trotzdem musste er nun erkennen, dass er am Rand
der Gesellschaft stand."2
Egal, wie man sich zu den
konkreten Inhalten der Analyse stellt – es ist eine interessante
Frage zur Fastenzeit: Was ist normal in unserer Gesellschaft? Welche
Werte werden vorgelebt, welche Normen stehen zur Debatte, welche
Tabus pflegen wir? Finden sich genügend Menschen in dem Geflecht der
Meinungen und Wertsetzungen wieder? Wo sehen sich die Christen? Manch
einer dreht die Moral der täglichen Sitcom sicher nicht um, wie es
Herr Jensen tut, sondern begnügt sich mit der so dargestellten
Weltsicht. Andere gehen gegen den so genannten Mainstream auf die
Straße oder beschimpfen Presse und Politik für die vertretenen
Inhalte vom Sofa aus.
Persönlich kann ich mich
fragen, ob meine eigene Perspektive eher die eines Randständigen ist
oder eines Mittenmenschen. Welche Werte halte ich für grundlegend?
Und wie stehen sie zu dem, was ich in politischen Äußerungen oder
in Unterhaltungsmedien sehe? Fühle ich mich korrumpiert oder
bestätigt? Inspiriert oder angewidert?
Welche Normalität
wünschte ich mir? Und welche Normalität ist der nahen Lebenswelt Gottes am angemessensten?
Die Uhr zeigt, wie es ist. Plänterwald, Treptow, Berlin, 2014. |
1 Jakob
Hein, Herr Jensen steigt aus. München 5. Aufl. 2006, 82.