Im Evangelium des heutigen Sonntags
(Mt 5,38-48) setzt Jesus noch einen drauf: Seine Worte aus der
Bergpredigt sind der Höhepunkt! Der ethische Maximalanspruch des
Christentums! Das Alleinstellungsmerkmal!
Lass dich von deinem Aggressor noch
einmal schlagen! Gib nicht nur das juristisch Geforderte, sondern
sogar noch mehr! Begleite freiwillig den, der dich unter Zwang zum
Mitgehen fordert! Und schließlich: Halte den, der dir Böses will,
nicht nur aus, sondern schließ ihn in dein Herz!
Für die einen sind diese Imperative völlig verstörend und
abseitig, für die anderen der entscheidende Grund, sich der
christlichen Botschaft zuzuwenden.
Jesu Forderungen sind, das ist ganz
klar festzuhalten, eine moralische Überforderung für den Menschen.
Es handelt sich nicht um intuitiv einsichtige Gebote, wie das Gebot,
nicht zu töten. Aus Respekt vor dem Leben kein Leben auszulöschen,
das leuchtet ein.
Aber die Aussagen im heutigen
Evangelium widersprechen der Alltagsrationalität radikal, führen
sie doch, konsequent weitergedacht, in die Selbstaufgabe. Kann das
gefordert werden?
Kontraintuitiv. Westhafenkanal, Moabit, Berlin 2017. |
Ich möchte mich dieser Situation von
einer strikt theologischen Seite nähern.
Denn wenn Jesus dieses Mehrgeben,
Aushalten, Mitgehen und die Feindesliebe fordert, dann hat er damit
nicht nur ein von den Christen gewünschtes Verhalten im Blick.
Vielmehr finden wir hier eine
Charakterisierung Gottes selbst.
Denn Gott tut in seiner Geschichte mit
dem Volk Israel genau das, was hier verlangt wird.
Wenn wir in diese Geschichte
hineinschauen, können wir an verschiedenen Stellen sehen, dass Gott
der Dranbleibende, der Aushaltende und Geduldige ist. Dass er bei
allem, was seine Auserwählten ihm antun, sie nur noch mehr liebt:
Er hält es aus, dass Sara ihn
auslacht, als er dem greisen Abraham einen Sohn ankündigt (vgl. Gen
18,12). Auch ihrem Enkel, dem betrügerischen Jakob, der sich als
Zweitgeborener Erbe und Erstgeborenrecht ergaunert (Gen 25,27ff; 27),
bleibt er treu, so weit, dass er ihm beim nächtlichen Kampf einen
neuen Namen gibt: Israel – Gottesstreiter (Gen 32,29). Dass dieser
Name als Name des Volkes weitergegeben wird, fordert also zwei streitfähige Partner und darum einen Gott, der sein Volk nicht im Stich lässt, sondern mit ihm weitergehen
wird - und sei es im Streit.
Denn auch beim Zug durch die Wüste
lässt er das Volk nicht im Stich, etwa wenn das Murren überhand
nimmt (vgl. Ex 16.17), oder wenn sich das Volk einen sichtbaren Gott
aus Gold wünscht und deshalb um das selbstgemachte Goldene Kalb
tanzt (vgl. Ex 32).
Im verheißenen Land angekommen, zeigt
das Buch der Richter ähnliches. Eine wiederkehrende Formel ist: "Die
Israeliten taten, was in den Augen des HERRN böse ist, und dienten
den Baalen. Sie verließen den HERRN, den Gott ihrer Väter, der sie
aus Ägypten herausgeführt hatte, und liefen anderen Göttern nach"
(Ri 2,11f. vgl. 3,7; 3,12; 4,1 u.ö.) Daraufhin entbrennt regelmäßig
Gottes Zorn, der ihn aber nicht davon abhält, sogleich für Rettung
zu sorgen: "Der HERR aber setzte Richter ein und die retteten
sie" (Ri 2,16). Nur hielt dies nicht an: "Sobald
aber der Richter gestorben war, wurden sie rückfällig und trieben
es noch schlimmer als ihre Väter, liefen anderen Göttern nach,
dienten ihnen und warfen sich vor ihnen nieder. Sie ließen nicht ab
von ihrem bösen Treiben und von ihrem störrischen Verhalten."
(Ri 2,19)
Ich zitiere das nicht darum so
ausführlich, weil ich glaube, dass es historisch immer genau so war
wie dort beschrieben, sondern weil die Tradierung solcher Texte
zeigt, wie wichtig es Autoren und Tradenten war, darauf
hinzuweisen, dass Gott trotz der regelmäßigen Abwendung von ihm,
trotz der Ohrfeigen, als die er das Niederwerfen vor den
selbstgemachten Göttern empfinden musste, immer wieder hingeht und
sich den nächsten Schlag holt: "...wenn dich einer auf die
rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin."
(Mt 5,39)
Das war für weite Strecken der
alttestamentlichen Überlieferung das entscheidende Moment des
jüdischen Gottesbildes: dass der Gott der Väter ihnen wie närrisch
hinterhergeht und sich aus lauter Liebe eine Enttäuschung nach der
anderen einholt.
Auch die Bücher der Propheten bestehen fast
nur aus den Hinweisen, dies doch endlich zu bemerken und nicht noch
einmal zuzuschlagen.
Meckern kann man immer. Spritzer an der Wand. Alt-Treptow, Berlin 2015. |
Schließlich das Leben und Sterben Jesu
selbst: Trotz der Anfeindungen seitens des Establishments geht er
weiter und verkündet seine Botschaft von Gottes Reich der
Gerechtigkeit und Liebe.
Die Passion als eine der ältesten
Überlieferungen der Jesustradition zeigt Jesus als den Prototyp
dessen, was später als ethische Maximen in der Bergpredigt
versammelt wird.
Vor Gericht gestellt, schraubt er nicht
zurück oder relativiert oder drückt sich anders aus, sondern er
gibt neben dem Hemd auch noch den Mantel: Als "König der
Juden" hatte Jesus sich nach allem, was wir wissen, zuvor
nicht bezeichnet, als aber Pilatus ihn fragt, ob er es sei, bestätigt
er ihn. (vgl. Mt 27,11)
Am Kreuz schließlich zeigt sich Jesus
als der, der tut, was er sagt: "Liebt eure Feinde und betet
für die, die euch verfolgen". (Mt 5,44). Nach der
Kreuzigung betet für seine
Mörder: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
tun!" (Lk 23,34)
Ich wiederhole noch einmal:
Die moralischen Forderungen, als welche
sich die neuen Gebote Jesu zunächst darstellen, sind also in erster
Linie Aussagen über das Verhalten Gottes gegenüber dem Volk Israel
und über das Verhalten Jesu selbst.
Darum heißt es am Schluss der Lesung
auch: "Ihr sollt ... vollkommen sein, wie es auch euer
himmlischer Vater ist." (v48)
Die Vollkommenheit, von der die Rede
ist, ist nachzulesen in der ganzen biblischen Überlieferung – als
liebende Dranbleiben Gottes an dem Volk, das ihn immer wieder
verlässt.
Aus diesem Grund findet sich das Gebot der Feindesliebe mit all den Vorstufen des Aushaltens und Mitgehens gerade im Christentum.
Aus diesem Grund findet sich das Gebot der Feindesliebe mit all den Vorstufen des Aushaltens und Mitgehens gerade im Christentum.
Vor diesem Hintergrund ist der Anspruch
dieser Gebote an uns Christen zwar weiterhin ungeheuer, aber sie
fußen eben auf den Erfahrungen, die das Volk Israel mit Gott und
seiner Liebe gemacht hat.
Nicht zu töten, kann man eigentlich
von jedem erwarten, das ist nichts besonderes – "Tun das
nicht auch die Heiden?" (Mt 5,47)
Aber wer sagt, dass er an einen Gott
glaubt, der sich aus Liebe zu den Menschen bis zum Kreuz erniedrigt
hat, der immerzu dranbleibt an uns in unserem Versagen, der unseren
Zwang aushält und der unsere Händel mit ihm verzeiht, der immer
wieder einsteckt, wenn wir ihn vergessen, verdrängen und verleugnen
– für jemanden, der von Gott solches glaubt, für den muss Jesu
Gebot der Feindesliebe wenigstens ein Ansporn sein.
Ansporn. Pflanzen pflanzen. Grünheide 2016. |