"Wer ist mein Nächster?" (Lk 10,29) –
So lautet die Frage, auf die Jesus im Lukasevangelium mit einer der
bekanntesten biblischen Geschichten, nämlich dem Beispiel vom
barmherzigen Samariter, antwortet.
Da wird ein Reisender von Räubern
zusammengeschlagen und blutig liegengelassen. Als fromme Männer
vorbeikommen und ihn sehen, lassen sie ihn liegen. Nur ein Ausländer
hilft dem Verletzten, eben der namengebende Samariter. So weit, so
bekannt.
Was tut meine Hand? Grünheide, 2017. |
In der Gebetstradition der Jesuiten
gibt es den Vorschlag, sich einen biblischen Text zu erschließen,
indem man in die dargestellte Situation hineinfühlt und dann in sich
selbst hineinhorcht: Welcher Platz wäre für mich in meiner
augenblicklichen Stimmung der richtige?
Wenn ich mir die Geschichte Jesu in
diesem Licht anschaue, erkenne ich vier unterschiedliche Haltungen.
Erstens: Ich schlage zu.
Auf Anhieb würden wenige Menschen
diese Aussage für sich selbst gebrauchen. Gewalt lehnen wir ab. Doch
der Schlag kann ja auch ein anderer sein, einer, der ohne physische
Gewalt auskommt: wo sich meine Bedürfnisse ungehindert nach vorne
drängeln dürfen. Wo ich eine leise Bitte ignoriere. Wo ich über
die Bedürfnisse meines Gegenübers hinweggehe. Wo auch ich den
schmutzigen Witz belache.
Was die Räuber tun – sie schlagen zu
und kümmern sich nicht mehr. Das kennen wir zu gut
Die Möglichkeiten dazu liegen in uns.
Doch wir müssen sie nicht zulassen.
Zweitens: Ich bin verletzt.
Das Gegenüber zur ersten Haltung. Es
gibt Momente in meinem Leben, da kann ich einfach nicht mehr, weil
mich eine Begegnung oder ein Gespräch einfach aus der Bahn geworfen
hat.
Und je nach meinem inneren Bild von mir
selbst wirkt sich das dann aus: vielleicht scheint sich dadurch etwas
zu bestätigen, was ich schon mein Leben lang glaube, gespürt zu
haben – nämlich, dass ich schwach bin.
Oder aber mein auf Stärke und
Unbesiegbarkeit gepoltes Selbstbild bekommt dadurch einen Knacks,
denn ein solcher Schlag war darin nicht einberechnet.
Wie auch immer es mir damit geht –
Hilflosigkeit und Verletzungen gehören zu unserem Leben.
Drittens: Ich schaue weg.
Das kann ich gut. Und muss es doch
auch, denn sonst komme ich selbst nur in Schwierigkeiten. Oder?
Wann ich Verantwortung übernehme und
wann ich einfach weitergehe, wie es die frommen Männer in Jesu
Geschichte taten, das ist eine schwierige Entscheidung. Doch diese
Entscheidungen prägen meinen Charakter und letztlich mein Leben. Und
nicht immer ist der anfangs einfacher scheinende Weg auch tatsächlich
leichter.
Viertens: Ich helfe.
Das nun ist der von Jesus emfohlene
Weg. "Geh und handle genauso" (Lk 10,37) sagt er am
Ende des Evangeliums und lebt auch selbst in dieser Weise: aufmerksam
werden, hingehen, sich die Hände schmutzig machen, umsonst helfen,
wieder gehen.
Die Frage, wer mein Nächster sei,
beantwortet Jesus mit der Geschichte, in der sich diese vier
Haltungen zeigen.
Der Blick auf die unterschiedlichen Haltungen kehrt
die Frage um – danach, wer ich bin.
Darin steckt nicht eine einlinig simple
Antwort, sondern die Frage, welche Facetten zu mir gehören und
welche Haltungen mich prägen.
Diese Facetten kann ich vor Gott bringen.
Vier Möglichkeiten liegen vor mir. S-Bahnhof Gesundbrunnen, Berlin, 2017. |