Fragen nach der
Rechtfertigung Gottes beschäftigen jüdische und christliche
Theologen seit langem, ohne dass sie sich letztgültig beantworten
lassen.1
Der Holocaustüberlebende
Elie Wiesel, der 2016 im Alter von 87 Jahren gestorben ist, hat in
seiner frühen Erinnerungserzählung "Die Nacht" den
Zorn eines gläubigen Juden am Neujahrsfest Rosch Haschana
festgehalten. Die Häftlinge versammelten sich auf dem Lagergelände
von Auschwitz zum Gebet:
Leer. Fehrbellin, 2018. |
Wer bist du, mein Gott,
dachte ich zornig, verglichen mit dieser schmerzerfüllten Menge, die
dir ihren Glauben, ihren Zorn, ihren Aufruhr zuschreit? Was bedeutete
deine Größe, Herr der Welt, angesichts all dieser Schwäche,
angesichts dieses Verfalls und dieser Fäulnis? Warum noch ihre
kranken Seele, ihre siechen Körper heimsuchen? [...]
"Lobet den
Ewigen..."
Die Stimme des Kantors
ließ sich vernehmen, zunächst glaubte ich, es sei der Wind.
"Gepriesen sei der
Name des Ewigen!"
Tausende von Lippen
wiederholten die Lobpreisung, Tausende beugten sich wie Bäume im
Sturm.
Gepriesen sei der Name
des Ewigen!
Warum, warum sollte ich
ihn preisen? Jede Faser meines Wesens sträubte sich dagegen. Nur
weil er Tausende seiner Kinder in Gräben verbrennen ließ? Nur weil
er sechs Gaskammern Tag und Nacht, Sabbat und Festtag arbeiten ließ?
Nur weil er in seiner Allmacht Auschwitz, Birkenau, Buna und so viele
andere Todesfabriken geschaffen hat? Wie soll ich zu ihm sagen:
"Gepriesen seist du, Ewiger, König der Welt, der du uns unter
den Völkern erwählt hast, damit wir Tag und Nacht gefoltert werden,
unsere Väter, unsere Mütter, unsere Brüder in den Gaskammern
verenden sehen? Gelobt sei dein heiliger Name, du, der du uns
auserwählt hast, um auf deinem Altar geschlachtet zu werden?"
Ich hörte, wie die
Stimme des Vorbeters unter dem Weinen, Schluchzen und Seufzen der
Gläubigen machtvoll und gebrochen zugleich aufstieg:
"Er ist der Herr
der ganzen Erde und des Weltalls!"
Alle Augenblicke hielt
er inne, als habe er nicht die Kraft, in den Worten ihren Inhalt
wiederzufinden. Die Weise erstickte seine Stimme.[...]
"Alle Schöpfung
bezeugt die Größe Gottes!"
Einst beherrschte der
Neujahrstag mein Leben. Ich wußte, daß meine Sünden den Ewigen
betrübten, und ich flehte um seine Vergebung. Früher glaubte ich
zutiefst, daß von einer einzigen meiner Gebärden, daß von einem
einzigen meiner Gebete das Heil der Welt abhing.
Heute betete ich nicht
mehr. Ich war außerstande, zu seufzen. Ich fühlte mich im Gegenteil
stark. Ich war der Ankläger. Und Gott war der Angeklagte.2
Das war nicht Elie Wiesels
letztes Wort zu dieser Frage.
Sein Ringen mit Gott ging
weiter. Aber Auschwitz hat in sein Gottesverhältnis für immer tiefe
Spuren gegraben. Und auch wir müssen weiter mit Gott ringen. „Wir
können nach Auschwitz beten, weil auch in Auschwitz gebetet wurde –
im Gesang, im Geschrei der jüdischen Opfer.“3
Selbst die offene Anklage
von Elie Wiesel war im Letzten – Gebet.
Leer. Wasserturm am Ostbahnhof, Berlin, 2016. |
1 Trotzdem
und deshalb gilt das Diktum von J.B. Metz: "Wenn es um
Auschwitz geht, kann man kaum zu radikal sein, leicht aber zu
geistreich oder zu 'originell'." (J.B. Metz, Memoria Passionis.
Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft. 3.,
durchgesehene und korrigierte Aufl., Freiburg i.Br. 2006, 37.)
2 E.
Wiesel, Die Nacht. Leipzig 1988, 71f.