Samstag, 26. Januar 2019

Gott nicht loben! Eine Anklage aus Elie Wiesels "Die Nacht"

Wo war Gott in Auschwitz? Warum hat er zugelassen, dass sein auserwähltes Volk millionenfach ermordet wird?
Fragen nach der Rechtfertigung Gottes beschäftigen jüdische und christliche Theologen seit langem, ohne dass sie sich letztgültig beantworten lassen.1

Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel, der 2016 im Alter von 87 Jahren gestorben ist, hat in seiner frühen Erinnerungserzählung "Die Nacht" den Zorn eines gläubigen Juden am Neujahrsfest Rosch Haschana festgehalten. Die Häftlinge versammelten sich auf dem Lagergelände von Auschwitz zum Gebet:

Leer.
Fehrbellin, 2018.
Wer bist du, mein Gott, dachte ich zornig, verglichen mit dieser schmerzerfüllten Menge, die dir ihren Glauben, ihren Zorn, ihren Aufruhr zuschreit? Was bedeutete deine Größe, Herr der Welt, angesichts all dieser Schwäche, angesichts dieses Verfalls und dieser Fäulnis? Warum noch ihre kranken Seele, ihre siechen Körper heimsuchen? [...]
"Lobet den Ewigen..."
Die Stimme des Kantors ließ sich vernehmen, zunächst glaubte ich, es sei der Wind.
"Gepriesen sei der Name des Ewigen!"
Tausende von Lippen wiederholten die Lobpreisung, Tausende beugten sich wie Bäume im Sturm.
Gepriesen sei der Name des Ewigen!
Warum, warum sollte ich ihn preisen? Jede Faser meines Wesens sträubte sich dagegen. Nur weil er Tausende seiner Kinder in Gräben verbrennen ließ? Nur weil er sechs Gaskammern Tag und Nacht, Sabbat und Festtag arbeiten ließ? Nur weil er in seiner Allmacht Auschwitz, Birkenau, Buna und so viele andere Todesfabriken geschaffen hat? Wie soll ich zu ihm sagen: "Gepriesen seist du, Ewiger, König der Welt, der du uns unter den Völkern erwählt hast, damit wir Tag und Nacht gefoltert werden, unsere Väter, unsere Mütter, unsere Brüder in den Gaskammern verenden sehen? Gelobt sei dein heiliger Name, du, der du uns auserwählt hast, um auf deinem Altar geschlachtet zu werden?"
Ich hörte, wie die Stimme des Vorbeters unter dem Weinen, Schluchzen und Seufzen der Gläubigen machtvoll und gebrochen zugleich aufstieg:
"Er ist der Herr der ganzen Erde und des Weltalls!"
Alle Augenblicke hielt er inne, als habe er nicht die Kraft, in den Worten ihren Inhalt wiederzufinden. Die Weise erstickte seine Stimme.[...]
"Alle Schöpfung bezeugt die Größe Gottes!"
Einst beherrschte der Neujahrstag mein Leben. Ich wußte, daß meine Sünden den Ewigen betrübten, und ich flehte um seine Vergebung. Früher glaubte ich zutiefst, daß von einer einzigen meiner Gebärden, daß von einem einzigen meiner Gebete das Heil der Welt abhing.
Heute betete ich nicht mehr. Ich war außerstande, zu seufzen. Ich fühlte mich im Gegenteil stark. Ich war der Ankläger. Und Gott war der Angeklagte.2

Das war nicht Elie Wiesels letztes Wort zu dieser Frage.
Sein Ringen mit Gott ging weiter. Aber Auschwitz hat in sein Gottesverhältnis für immer tiefe Spuren gegraben. Und auch wir müssen weiter mit Gott ringen. „Wir können nach Auschwitz beten, weil auch in Auschwitz gebetet wurde – im Gesang, im Geschrei der jüdischen Opfer.“3

Selbst die offene Anklage von Elie Wiesel war im Letzten – Gebet.

Leer.
Wasserturm am Ostbahnhof, Berlin, 2016.


1   Trotzdem und deshalb gilt das Diktum von J.B. Metz: "Wenn es um Auschwitz geht, kann man kaum zu radikal sein, leicht aber zu geistreich oder zu 'originell'." (J.B. Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft. 3., durchgesehene und korrigierte Aufl., Freiburg i.Br. 2006, 37.)

2   E. Wiesel, Die Nacht. Leipzig 1988, 71f.


3   J.B. Metz, a.a.O.