In seinem Roman "Der
Widersacher" erzählt Emmanuel Carrère sein Ringen mit der
Geschichte von Jean-Paul Ramond, einem Mann, der 18 Jahre lang sein
engstes familiäres Umfeld über seine beruflichen und finanziellen
Verhältnisse belogen hat. Kurz bevor alles aufgeflogen wäre, tötete
er seine Frau, seine Kinder und seine Eltern.
Nebel über dem Peetzsee. Grünheide, Brandenburg, 2016. |
Mit diesem Buch begann Carrères
eigentümliche und eindrückliche Art des Schreibens, bei der er
autobiographische Erlebnisse in enge Beziehung zu seinem
Schreibgegenstand setzt. Während sich "Das Reich Gottes"
beispielsweise um seinen persönlichen Glauben und die Anfänge des
Christentums drehte, handelte "Ein russischer Roman"
von einem Filmdreh in Russland, seinem Liebesleben und der Geschichte
seiner Familie.
Für den "Widersacher"
stellte der französische Autor 19992
erstmals einen Akteur und sich selbst nebeneinander und "diese
Parallelisierung wurde auf einmal zum Notenschlüssel. Plötzlich
wurden wir Teil derselben Geschichte, wir gehörten derselben Welt
und derselben Menschheit an und unsere Geschichten konnten einander
spiegeln."3
Sich selbst in die extreme Geschichte
eines mehrfachen Mörders hineinzufinden, mehrfach den Kontakt zu
diesem zu suchen und daraus in der Schriftform weder etwas
Reißerisches noch Kitsch noch eine moralisch zweifelhafte
Fraternisierung werden zu lassen, ist eine literarische
Meisterleistung.
Nun ließe sich eine ganze Menge über
dieses bemerkenswerte Buch sagen. Was mich jedoch besonders
interessiert, ist der Prozess der Veränderung, den der oben genannte
Gefängnisseelsorger angestoßen hat – oder auch nicht.
Denn es ist ein Sinneswandel, der für
eine Menge Fragen, mehr noch aber für Unmut und Unverständnis bei
Familie und Freunden des Verurteilten sorgt: Will sich der Mann, den
alle jahrelang für einen Arzt hielten, der vorgab, als Forscher bei
der WHO in Genf zu arbeiten, und der große Teile der Familie mit
Anlageversprechen um ihre Ersparnisse brachte, nun auf der religiösen
Schiene aus der Verantwortung stehlen?
Ein Betrüger bleibt ein Betrüger, die
Bekehrung zum Christentum lässt man ihm nicht durchgehen.
Vor diesem Hintergrund jahrelangen
Betrugs bleibt unklar, ob Ramond tatsächlich religiös geworden ist.
In einem Brief an den Autor schreibt
er, dass ihn "zahlreiche 'Zeichen'"4
im Glauben bestärkt hätten, seinen Freund Luc überschüttet er
bald nach seiner Begegnung mit dem Seelsorger mit frommen Auskünften
und Bitten ums Gebet. Fasten, Meditationen, Gespräche mit einer
ehrenamtlichen Betreuerin kommen dazu.
Carrère seinerseits bleibt äußerst
skeptisch und hält sich augenscheinlich mehr an die Berichte der
psychiatrischen Gutachten, die Überanpassung und eine narzisstische
Störung diagnostizieren. "Die Rolle des angesehenen
Forschers wird durch die, nicht minder dankbare, des
Schwerverbrechers auf dem Weg zur mystischen Erlösung ersetzt."5
Anders schaut die Betreuerin
Marie-France auf den Mörder. Sie kommt aus einem christlichen Impuls
zu Besuch bei Inhaftierten. Bei ihrer Aussage vor Gericht beschreibt
sie ihre ersten Begegnungen mit Ramond: "Wenn ich ihm die
Hand gab, hatte ich den Eindruck, die Hand eines Toten zu schütteln,
so kalt war sie. Er dachte nur ans Sterben, ich hatte noch nie einen
so traurigen Menschen gesehen ... Jedes Mal, wenn ich ihn verließ,
fürchtete ich, ihn beim nächsten Besuchstermin nicht mehr
anzutreffen."6
Ihre Sorge und ihr Mitgefühl geben
Romand die Chance, sie nah an sich heranzulassen.
Genau hier verläuft nach meiner
Erfahrung ein schmaler Grat: Sind die vertraulichen Gespräche mit
Seelsorgern für die Inhaftierten ein Weg, um mit sich selbst und mit
Gott in innere Berührung zu kommen – und so der genannten Wahrheit
näher? Oder laufen die Mechanismen der Verteidigung, Abwehr, des
Glättens und Kleinredens in einem solchen Gespräch weiter?
Und selbst wenn dies nicht der Fall ist
und jemand sich zur Ehrlichkeit durchringt, was sagen das Bekenntnis
zur eigenen Tat und die Reue darüber denn aus?
Vertrauenswürdige Arbeit. Grünheide, 2018. |
Das persönliche Verhältnis von
SeelsorgerInnen und Inhaftierten kann natürlich nur auf den
jeweiligen Einzelfall hin dazu befragt werden.
Doch in einem Kontext wie der Haft, in
dem das Zutrauen in einen (straffällig gewordenen) Menschen maximal
reduziert ist und es auch andersherum nur sehr begrenzte
Möglichkeiten gibt, Vertrauen aufzubauen, bietet der Kontakt mit
Seelsorgern und Seelsorgerinnen (als solche verstehe ich die
ehrenamtliche Marie-France hier) oft die einzige Möglichkeit,
überhaupt innere menschliche Regungen zuzulassen und auszudrücken.
Das ist die eine Seite: Vertrauen in
der Haftzeit stellt eine äußerst begrenzte Ressource dar.
Die andere Seite ist, dass ein
Inhaftierter auf alle mögliche Weise versuchen wird, Vergünstigungen
zu erreichen und dafür in einem guten Licht dazustehen. Und das
halte ich überhaupt nicht für ehrenrührig, denn die Haft bringt es
mit sich, dass es vielfach nur eingeschränkt möglich ist, das Leben
als lebenswert zu erfahren. Da ist es nur natürlich, dass ein Mensch
alle sich bietenden Chance zur Verbesserung seiner Situation nutzt –
auch unter Zuhilfenahme unmoralischer Mittel.
(Ich selbst erlebe das oft genug, wenn
zwar ein Gespräch erbeten, aber eigentlich Tabak oder Kaffee erhofft
wird und fühle mich dann bisweilen getäuscht oder vorgeführt –
aber ich erkenne auch die Notlage, in der sich viele Inhaftierte
fühlen.)
Dazu kommt, dass es nun einmal die
Rolle von Seelsorgern ist, Angenommensein zu vermitteln und als
vertrauensvoller Beziehungspartner anwesend zu sein, ohne im
Einzelnen zu wissen, welche psychischen (und bisweilen eben auch
pathologischen) Dynamiken dabei aktiviert werden. Umso wichtiger ist es für Seelsorger, verantwortlich und reflektiert in diese Situationen hineinzugehen. Carrère meint
beispielsweise im Gespräch mit Marie-France, dass Lügen einfach das
Leben dieses Mannes ausmache, "er kann nicht anders, und ich
glaube sogar, er tut es eher, um sich selbst etwas vorzumachen als um
andere zu hintergehen."7
Für die Aufgabe eines Seelsorgers
heißt das nun: Ich kann Bekehrung und Einsicht nicht machen und es
ist (zum Glück) auch nicht meine Aufgabe, zu entscheiden, wie es im
Herzen eines inhaftierten Straftäters aussieht (was mich nicht von
professioneller Arbeit und Weiterbildung auf ebendiesen Gebieten
entbindet). Ich kann jemanden nur einladen, sich auf diesen Weg zu machen und ihn dabei begleiten.
Ein Seelsorger kann vermitteln, dass er
dem Inhaftierten glaubt (soweit dies authentisch ist). Er kann auch
mit unangenehmen Wahrheiten konfrontieren und hoffen, dass ein Weg
der Einsicht in die eigenen Fehler und Straftaten beschritten wird.
Beides gehört für einen
vertrauensvollen Dialog zusammen, aber bisweilen bleibt das Vertrauen
eben nur einseitig. Entweder glaubt ein Seelsorger dem Inhaftierten
seine Geschichte nicht oder der Inhaftierte glaubt nicht, dass er
wirklich angenommen wird.
Wenn das Vertrauen des Seelsorgers aber
zu seiner Aufgabenbeschreibung gehört, dann finde ich es gar nicht
problematisch, wenn im Buch "Der Widersacher" offen
bleiben muss, ob die "Rückkehr zur Wahrheit" (welche immer das in einem komplett gelogenen Leben auch sein kann) und die religiöse Bekehrung nun wahr oder falsch sind.
Denn gerade diese Unklarheit gehört ja
zum Vertrauen – der Autor Emmanuel Carrère hat es da nicht so
einfach.
Ein sehr empfehlenswertes Buch hat er
trotzdem – oder gerade darum – geschrieben.
Viel Qualm. Linum, 2018. |
1 E.
Carrère, Der Widersacher. Berlin 2018, 141.
2 2018
wurde der Roman von Claudia Hamm neu ins Deutsche übersetzt, die
deutsche Erstübersetzung erschien 2001 unter dem Titel "Amok",
vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Emmanuel_Carr%C3%A8re#Werk
3 Gespräch
mit Claudia Hamm in a.a.O., 177.
4 Ebd.,
34.
5 Ebd.,
142.
6 Ebd.,
152.
7 Ebd.,
149.