Donnerstag, 21. Februar 2019

Splitter zur Feindesliebe. Mit Adornos Hilfe

Im Nachdenken über das Evangelium des kommenden Sonntags wird mir mulmig, wenn ich mir dazu das gleichzeitig stattfindende kirchliche Ereignis in Rom vor Augen halte: Während Jesus im Evangelium von Feindesliebe spricht, diskutieren die Bischöfe in Rom über den sexuellen Missbrauch durch kirchliche Amtsträger.

Missbrauch und Feindesliebe in einem Satz – das ist vermintes Gelände.

Denn zu schnell entsteht der Eindruck, dass über die kirchlichen Missbrauchstäter wieder einmal der Mantel des barmherzigen Schweigens und Vergessens gelegt werden soll. Die "Feinde", das wären in dieser Assoziationskette all die Täter, Vertuscher, schweigenden Mitwisser.
Auch sie müssten doch geliebt werden, darum wäre ihnen zu verzeihen.

Doch bei der Feindesliebe geht es nicht um Barmherzigkeit. Auch Schuld und Antipathie werden nicht negiert, Gegnerschaft und Unterschiedlichkeit nicht wegretuschiert. Ein Gewalttäter wird unter dem Blick der Liebe nicht plötzlich zum unschuldigen Lamm.

Ruine schmiegt sich an.
Halle (Saale), 2016.
Aber über den trennenden Abgrund hinweg besteht doch ein Band des Gemeinsamen.

Um es mit einem Aphorismus Adornos zu sagen:

"Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen."1

Bei aller Abscheu vor den Gewalttaten und ihrer systematischen Verheimlichung gibt es doch nicht nur Verschiedenheit zwischen dem Täter und mir, sondern auch Gemeinsamkeit.
Sieht man es unter der Maßgabe Adornos, dann besteht die Liebe geradezu im Aushalten des Nebeneinanders von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Oder genauer: Die Liebe ist hier die Fähigkeit, in all dem, was mich am anderen abstößt, was sich mit meinem Denken und Leben überhaupt nicht vereinbaren lässt, immer noch das zu sehen, was uns gemeinsam ist.

Dann wäre Liebe in ihrer Reinform gerade auf den "Feind" ausgerichtet – nämlich als auf den, der völlig und ganz anders ist als ich.
Feindesliebe ist nicht Liebe plus, sondern Feindesliebe ist Liebe pur.

Dazu gehört die Einsicht: Auch meinem "Feind" bin ich in mancher Hinsicht ähnlich, auch wenn mich das ekelt.

Die Liebe macht uns nicht sympathisch, auch nicht gleich. Doch unser beider Ähnlichkeit im Menschsein ist größer als die Feindschaft. Größer als die Untaten. Größer als die monströseste Schuld.

Allein diese schreckliche Gleichzeitigkeit von ähnlich und unähnlich auszuhalten ist nach Adorno: Liebe.

Das ist eine ungeheure Herausforderung, eine moralische Gratwanderung, die nicht einfach ist und von niemandem verlangt werden kann.
Aber Liebe kann ja sowieso nie verlangt werden. 


1   T.W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1970, 53.