Im Nachdenken über das Evangelium des
kommenden Sonntags wird mir mulmig, wenn ich mir dazu das
gleichzeitig stattfindende kirchliche Ereignis in Rom vor Augen
halte: Während Jesus im Evangelium von Feindesliebe spricht,
diskutieren die Bischöfe in Rom über den sexuellen Missbrauch durch
kirchliche Amtsträger.
Missbrauch und Feindesliebe in einem
Satz – das ist vermintes Gelände.
Denn zu schnell entsteht der Eindruck,
dass über die kirchlichen Missbrauchstäter wieder einmal der Mantel
des barmherzigen Schweigens und Vergessens gelegt werden soll. Die
"Feinde", das wären in dieser Assoziationskette all die
Täter, Vertuscher, schweigenden Mitwisser.
Auch sie müssten doch geliebt werden,
darum wäre ihnen zu verzeihen.
Doch bei der Feindesliebe geht es nicht
um Barmherzigkeit. Auch Schuld und Antipathie werden nicht negiert,
Gegnerschaft und Unterschiedlichkeit nicht wegretuschiert. Ein
Gewalttäter wird unter dem Blick der Liebe nicht plötzlich zum
unschuldigen Lamm.
Ruine schmiegt sich an. Halle (Saale), 2016. |
Aber über den trennenden Abgrund
hinweg besteht doch ein Band des Gemeinsamen.
Um es mit einem Aphorismus Adornos zu
sagen:
"Liebe ist die Fähigkeit,
Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen."1
Bei aller Abscheu vor den Gewalttaten
und ihrer systematischen Verheimlichung gibt es doch nicht nur
Verschiedenheit zwischen dem Täter und mir, sondern auch
Gemeinsamkeit.
Sieht man es unter der Maßgabe
Adornos, dann besteht die Liebe geradezu im Aushalten des
Nebeneinanders von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Oder genauer: Die
Liebe ist hier die Fähigkeit, in all dem, was mich am anderen
abstößt, was sich mit meinem Denken und Leben überhaupt nicht
vereinbaren lässt, immer noch das zu sehen, was uns gemeinsam ist.
Dann wäre Liebe in ihrer Reinform
gerade auf den "Feind" ausgerichtet – nämlich als auf
den, der völlig und ganz anders ist als ich.
Feindesliebe ist nicht Liebe plus,
sondern Feindesliebe ist Liebe pur.
Dazu gehört die Einsicht: Auch meinem
"Feind" bin ich in mancher Hinsicht ähnlich, auch wenn
mich das ekelt.
Die Liebe macht uns nicht sympathisch,
auch nicht gleich. Doch unser beider Ähnlichkeit im Menschsein ist
größer als die Feindschaft. Größer als die Untaten. Größer als
die monströseste Schuld.
Allein diese schreckliche
Gleichzeitigkeit von ähnlich und unähnlich auszuhalten ist nach
Adorno: Liebe.
Das ist eine ungeheure Herausforderung,
eine moralische Gratwanderung, die nicht einfach ist und von
niemandem verlangt werden kann.
Aber Liebe kann ja sowieso nie verlangt
werden.
1 T.W.
Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.
Frankfurt a.M. 1970, 53.