Sind wir gemeint, wenn das Evangelium
vorgelesen wird?
Es ist möglich, mit
etwas geistlichem Balsam viele Aussagen der Heiligen Schriften für
uns Heutige fruchtbar zu machen. Aber wenn wir uns fragen, zu wem
Jesus (jedenfalls im heutigen
Evangelienabschnitt) wirklich spricht, dann müssen wir uns
eingestehen, dass wir es nicht sind.
Und das nicht deshalb, weil Zeit und
Raum und Kultur uns trennen, sondern weil Jesus Menschen in einer
komplett anderen existenziellen Lage anspricht.
Die Frohe Botschaft dieses Predigers
aus Nazareth, seine Seligpreisungen, richten sich an die Abgehängten, Überrollten,
Marginalisierten, Randständigen, Geängstigten, Hungrigen.
War er gemeint? Neukölln, Berlin, 2018. |
Die wenigsten deutschen
Kirchengemeinden bestehen aus solchen Menschen.
Bei uns gibt es viele Akademiker, ein
paar Sinnsucher, die Kirchgänger aus Tradition, die etablierte
Elite. Und ab und zu vielleicht ein paar Menschen aus oben genannten
Schichten. Wobei ich mit Schicht etwas umschreiben will, das nicht in
erster Linie die soziale Lage beschreibt, sondern eher ein
Lebensgefühl.
Lassen wir (und ich schließe mich bei
einigen der letztgenannten Beschreibungen mit ein) uns also die
Seligpreisungen des Lukas auf der Zunge zergehen:
"Selig, ihr Armen, denn euch
gehört das Reich Gottes.
Selig, die ihr jetzt hungert, denn
ihr werdet satt werden.
Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr
werdet lachen.
Selig seid ihr, wenn euch die
Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie
euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes
willen." (Lk 6,20-22)
Das sind wir nicht, die da angesprochen
sind.
Sicher weinen auch wir manchmal, sicher
mag nicht jeder Mitbürger unser (meist vorsichtiges) christliches
Bekenntnis...
Aber so im Großen und Ganzen meint
Jesus doch andere Leute als diejenigen, die ich von meinem
sonntäglichen Kirchgang kenne.
Wahrscheinlich gleichen wir eher
diesen, die Jesus anschließend anspricht:
"Weh euch, die ihr reich seid;
denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten.
Weh euch, die ihr jetzt satt seid;
denn ihr werdet hungern.
Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn
ihr werdet klagen und weinen.
Weh euch, wenn euch alle Menschen
loben..." (Lk 6,24-26)
Nun kann ich an manchen Umständen
meines Daseins etwas ändern, an anderen aber nicht.
Ich glaube, wir europäischen
Mittelschichtschristen können Texte wie diesen nur in arg
vergeistigter Auslegung positiv auf uns beziehen.
Deshalb ist das, was dieser Text für
uns bereithält, wahrscheinlich kein Trost, sondern ein Ruf in die
Verantwortung: Dass unsere Gemeinden vielschichtig und plural sind.
Dass wir jene aufrichten, die vom Leben überrollt wurden. Dass Jesu
Wort uns zur Umkehr treibt.
Sind sie gemeint? Helden der Unabhängigkeit. Warschau, 2015. |