Samstag, 16. Februar 2019

Nichts für Mittelschichtschristen. Eine Auslegung zum Sonntagsevangelium

Sind wir gemeint, wenn das Evangelium vorgelesen wird?

Es ist möglich, mit etwas geistlichem Balsam viele Aussagen der Heiligen Schriften für uns Heutige fruchtbar zu machen. Aber wenn wir uns fragen, zu wem Jesus (jedenfalls im heutigen Evangelienabschnitt) wirklich spricht, dann müssen wir uns eingestehen, dass wir es nicht sind.

Und das nicht deshalb, weil Zeit und Raum und Kultur uns trennen, sondern weil Jesus Menschen in einer komplett anderen existenziellen Lage anspricht.
Die Frohe Botschaft dieses Predigers aus Nazareth, seine Seligpreisungen, richten sich an die Abgehängten, Überrollten, Marginalisierten, Randständigen, Geängstigten, Hungrigen.

War er gemeint?
Neukölln, Berlin, 2018.
Die wenigsten deutschen Kirchengemeinden bestehen aus solchen Menschen.
Bei uns gibt es viele Akademiker, ein paar Sinnsucher, die Kirchgänger aus Tradition, die etablierte Elite. Und ab und zu vielleicht ein paar Menschen aus oben genannten Schichten. Wobei ich mit Schicht etwas umschreiben will, das nicht in erster Linie die soziale Lage beschreibt, sondern eher ein Lebensgefühl.

Lassen wir (und ich schließe mich bei einigen der letztgenannten Beschreibungen mit ein) uns also die Seligpreisungen des Lukas auf der Zunge zergehen:

"Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.
Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden.
Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.
Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen." (Lk 6,20-22)

Das sind wir nicht, die da angesprochen sind.

Sicher weinen auch wir manchmal, sicher mag nicht jeder Mitbürger unser (meist vorsichtiges) christliches Bekenntnis...
Aber so im Großen und Ganzen meint Jesus doch andere Leute als diejenigen, die ich von meinem sonntäglichen Kirchgang kenne.

Wahrscheinlich gleichen wir eher diesen, die Jesus anschließend anspricht:

"Weh euch, die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten.
Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern.
Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen.
Weh euch, wenn euch alle Menschen loben..." (Lk 6,24-26)

Nun kann ich an manchen Umständen meines Daseins etwas ändern, an anderen aber nicht.
Ich glaube, wir europäischen Mittelschichtschristen können Texte wie diesen nur in arg vergeistigter Auslegung positiv auf uns beziehen.

Deshalb ist das, was dieser Text für uns bereithält, wahrscheinlich kein Trost, sondern ein Ruf in die Verantwortung: Dass unsere Gemeinden vielschichtig und plural sind. Dass wir jene aufrichten, die vom Leben überrollt wurden. Dass Jesu Wort uns zur Umkehr treibt.

Sind sie gemeint? Helden der Unabhängigkeit.
Warschau, 2015.