Samstag, 15. Juni 2019

Living out of the box. Predigt am Dreifaltigkeitssonntag.

Wenn wir Christen heute die Heilige Dreifaltigkeit feiern, dann frage ich mich, ob das etwas ist, was uns heute etwas Wichtiges zu sagen hat. Ich versuche es - passenderweise - in drei Schritten.

1. Vater
Ich weiß nicht, was in Ihnen für Gedanken und Gefühle entstehen, wenn ich "Vater" sage. Vielleicht denken Sie "Idiot". Oder Sie bringen "Vater" mit "Vorbild" zusammen. Vielleicht denken Sie aber auch: "Trinker".
Vielleicht entsteht Sehnsucht. Oder Wehmut. Oder aber Wut. Oder Traurigkeit.
Jeder macht andere Erfahrungen mit dem Wort Vater.

Mir fällt bei dem Wort "Vater" ein Mann ein, der vor vier Jahren mit dem großen Strom der Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland kam und den ich in einem Nest in Brandenburg kennengelernt habe, als ich ein paar Freizeitangebote für die Bewohner der dortigen Unterkunft machen wollte.
Kugel am Himmel.
Zinnowitz, 2019.
Er hatte seine Tochter dabei und als ich ihn das erste Mal traf, war er zwar schon einige Monate in Deutschland, aber das Lernen der Sprache fiel ihm sehr schwer. Er war mit seinen Gedanken bei seiner Frau und zwei kleinen Kindern, die noch in Syrien waren und sich vor den Angriffen des IS fürchteten. In seinem Kopf war noch kein Platz, um all das Neue zu ordnen und sich auf das Lernen zu konzentrieren. Deshalb musste seine Tochter, die mit ihm zusammen geflohen war, sie war vielleicht acht oder neun und hatte schon ein paar mehr Brocken Deutsch gelernt, für ihn übersetzen. Das war sicher nicht leicht für ihn, so abhängig zu sein.

Denn der Vater steht in unserer kollektiven Vorstellungswelt dafür, dass er Dinge schafft und hervorbringt. Er bastelt vielleicht etwas für Kinder. Oder er baut ein Haus. Oder er repariert Dinge, in Deutschland vornehmlich Autos.
Kinder möchten auf ihre Eltern schauen als auf jene, die ihre Lebensgrundlage sichern und auf die sie sich verlassen können.
Als wir neulich im Wald unterwegs waren und uns etwas verlaufen hatten, war meine Tochter ziemlich schnell aufgeregt, als sie merkte, dass ihr Vater jetzt nicht mehr weiter weiß.
Auf den Vater will man sich verlassen können. Er soll die Dinge in der Hand haben und notfalls wieder gerade rücken.

Das wünschen wir uns auch von Gott. In manchen Krisensituationen gehen wir zu ihm und bitten ihn darum, dass er die Dinge wieder zusammen bringt.
Und wenn das nicht klappt?

Wie mochte sich das Mädchen fühlen, das viele Dinge, die mit der deutschsprachigen Außenwelt zu tun haben, für ihren Vater zu erledigen hatte? Sie musste selbst das machen, was ihr Vater nicht konnte – mit den Sozialarbeitern vor Ort sprechen, mit den Lehrern, mit dem Busfahrer, mit der Verkäuferin am Bäckerstand.
Ihr Vater war nicht stark und mächtig. Er machte sich Sorgen um die in Syrien zurückgebliebene Familie und hatte noch nicht einmal hier sein Leben in der Hand.

Wenn wir von Gott nicht erhalten, worum wir ihn bitten, sind wir manchmal enttäuscht: Ist er nicht stark und mächtig? Ist er nicht an meiner Seite, um mir beizustehen? Hat er gar nicht alles in der Hand? Gibt es ihn überhaupt?

Sicher hat Gott auch etwas von dem Schaffenden, dem Machenden, dem, der die Dinge im Griff hat.
Aber wenn Jesus von Gott als Vater spricht, dann tut er das gar nicht unbedingt auf dieser Linie, es geht Jesus nicht um den Gedanken an Allmacht und Stärke. Der Vater ist vielmehr der, der sich sorgt und das Beste für seine Kinder will. So wie der Syrer, der vorausging und die Ankunft für den Rest der Familie vorbereiten wollte.
In Jesu berühmter Geschichte vom verlorenen Sohn zeigt Gott sich außerdem als ein Vater, der voller Liebe darauf wartet, dass sein Kind zurückkehrt. Er zieht ihn nicht am Schopf aus dem Schlamm. Aber als er da ist, nimmt er ihn in die Arme. Er feiert ein Fest mit ihm und gibt ihm eine weitere Chance.

Vielleicht ist das ein guter erster Gedanke zum dreieinen Gott – besonders hier im Gefängnis.
Gott als Vater ist der, der uns erwartet, der uns noch eine weitere Chance gibt und mit uns feiern will.

2. Sohn
Auch das Wort "Sohn" ist vielfach vorgeprägt.
Ein Sohn hat meist Ähnlichkeit mit den Eltern, im Guten wie im Schlechten, ob er das will oder nicht. Eltern wiederum haben Erwartungen an ihren Sohn. Gerade amerikanische Filme drehen sich oft um das, was ein guter Sohn in den Fußstapfen seines Vaters tun soll oder tun will.

"Einen Sohn lebendig bis ins Erwachsenenalter zu bringen muss Eltern manchmal vorkommen wie ein zähes Wiederholungstrainung, ein oftmals vergebliches, aber liebevolles Bemühen um Beständigkeit."1 So schreibt der Schriftsteller Richard Ford in den Erinnerungen an seine Eltern.
Kinder gehen ihre eigenen Wege und nicht immer ist das für die Eltern verständlich. Manche Dinge verstehen sie einfach nicht, weil die Kinder in ihrer eigenen Welt leben.
Andere Welt.
Neukölln, Berlin, 2018.
Nach dem Tod seines Vaters schreibt Ford von seiner Mutter:
"Sie beobachtete meine ersten Schritte als Schriftsteller und unterstützte mich darin, aber sie verstand nicht, warum ich das unbedingt wollte. 'Wann suchst du dir endlich eine Arbeit und legst los?', fragte sie mich einmal, nachdem ich schon zwei Romane veröffentlicht hatte und in Princeton unterrichtete."2

Obwohl die Mutter ihrem Sohn über viele Jahre sehr nahe war und ihn zweifellos stark geprägt hat, ist ihr schleierhaft, wie man so leben will wie ihr Sohn.
Die Welt ihres Sohnes blieb ihr fremd, auch wenn sie ihn unterstützte.

Gott hat mehr Möglichkeiten als sie – und er nutzt sie. (Das ist das Geheimnis von Weihnachten.)

Gott bekommt den Blick über den Tellerrand hin. Er bleibt der Welt, die er selbst geschaffen und die sich dann so sehr von ihm entfremdet hat, treu. Und zwar so treu, dass er, der Schöpfer, selbst ein Geschöpf wird.
Er wechselt sozusagen die Seiten und taucht ein in Zeit und Raum. Gott holt sich diese andere Perspektive ins Haus – denn er ist Vater und Sohn zugleich.
Auch das können wir also über Gott festhalten: dass er mehrere Perspektiven hat – er schaut nicht nur von oben und von weit entfernt aus dem Himmel, sondern auch von unten, wir können sogar sagen von innen.
Er ist ein Gott, der "out of the box" lebt, nicht begrenzt von den üblichen Vorstellungen und Klischees.

Als Sohn geht er einerseits in den Fußstapfen des Gottes, der sich dem Volk Israel in den Jahrhunderten zuvor offenbart hat – als ein fürsorglicher, werbender, heimrufender, liebender Gott.
Aber es gibt auch Seiten des alttestamentlichen Gottesbildes, die Jesus völlig umkrempelt. Der rachsüchtige und nachtragende, der ausrastende und kleinliche Gott, der sich an manchen Stellen der Bibel zeigt, tritt in seiner Predigt und in seinem Handeln nahezu völlig in den Hintergrund.

Kurz gesagt: Jesus macht bei der Gewalt nicht mit.
Nicht bei der Gewalt gegen Frauen (erinnert sei nur an die vorgeführte Ehebrecherin in Joh 8), nicht bei der Gewalt gegen Andersgläubige, nicht bei der Gewalt gegen die römischen Besatzer, nicht bei der Gewalt gegen seine Feinde.
Leider hat die Kirche es in den vielen Jahrhunderten nicht geschafft, so wie Gott-Sohn gegen Gewalt aufzustehen – und erst recht selbst keine einzusetzen.

Nichtsdestotrotz: Gott tritt als einer auf, der den Frieden sucht und die Gewalt als Mittel verabscheut. Vielmehr erleidet er die Gewalt.
Er zeigt sich als Gott, der verschiedene Perspektiven einnehmen will und dafür Grenzen überschreitet. Dabei tritt er zwar auch in die Fußspuren des Vaters, aber sein Weg als Sohn ist noch einmal ein eigener. Auch an diesem Gesicht Gottes kann man sich im Gefängnis gut orientieren.

3. Geist
Wer „Geist" sagt, hat heute wohl meistens ein Gespenst oder einen Poltergeist als Assoziation im Kopf. Jedenfalls irgendetwas, das nicht so ganz von dieser Welt ist, das man nicht fassen kann, das es vielleicht gar nicht wirklich gibt.
Natürlich hat „Geist" auch noch viele andere Bedeutungen, aber beschränken wir uns mal auf diese.

Vielseitig begabt.
Linum, 2018.
Wenn ich zum Beispiel eine Predigt halten muss, dann setze ich mich eine Woche vorher hin und beschäftige mich mit dem Thema oder dem vorgeschlagenen Text. Ein paar Tage lang lasse ich es in mir köcheln und schaue immer mal wieder nach, ob da ein Gedanke gekommen ist, ob ich spontan irgendetwas aus meinem Umfeld als Inspiration nehmen kann.
Manchmal habe ich dann am Donnerstag oder Freitag einen Leitgedanken, den ich ausspinnen kann und aus dem dann eine Predigt wird. In anderen Wochen sitze ich am Freitagabend da und starre in die Luft.
Irgendwas kommt ja dann immer – aber manchmal hat es eben Hand und Fuß und manchmal hängt es so ein bisschen in der Luft.
An bestimmten Tagen habe ich den Eindruck, dass ist selbst nicht viel schaffen kann, zu viel Krempel hat sich in meiner Seele aufgestaut, zu viel Geschrei in der Wohnung, zu viel zu tun, zu viel, das mich hindert, mich wirklich einzulassen auf die Fragen des Textes oder des Themas.

In dieser Woche dann habe ich das Evangelium (Joh 16,12-15) noch einmal gelesen: "er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird reden, was er hört." (v13)
Die Rede ist vom Heiligen Geist. Er gibt das weiter, was Gott will – und will uns darin ein Vorbild sein. Wenn ich in meinem Alltag mal ein bisschen mehr zuhöre, anstatt immer zu quatschen, kann auch ich mehr Relevantes sagen.

Der Heilige Geist ist die Kreativität, die Phantasie, er lebt in den vielen Fähigkeiten und Sprachen, die Menschen so haben.
Der Heilige Geist ist der Gott mitten unter uns. Er ist Gott in unserer Mitte. Ebendarum ist er tatsächlich nur schwer fassbar und nicht immer eindeutig abgrenzbar.

Er will uns mit be-geist-erter Freude erfüllen und ebenso mit ruhigem Frieden. Und in allem unser Herz für die Liebe Gottes öffnen.

4. Schluss
Und damit noch einmal zu dem irakischen Flüchtling aus Syrien.
Ich habe ihn mit einigen anderen Geflüchteten eingeladen, in einem Bildungshaus einen Keramikworkshop zu machen. Eine Freiwillige hat Erwachsene und Kinder angeleitet, einen Fisch zu formen. Das haben alle gemacht – nur dieser Mann hat angefangen, ein Kreuz zu gestalten. Ich habe ihn (durch die Übersetzungshilfe seiner Tochter) gefragt, ob er denn Christ sein. Das hat er verneint. Er sei Muslim und glaube an Allah und seinen Propheten Mohammed. Aber er kenne Christen aus seiner Heimat in Syrien.
Nachdem er das Kreuz beim zweiten Treffen noch angemalt hatte, wollte er es uns schenken. Denn er wusste, dass es sich um ein christliches Haus handelt.
Ihm war wichtig, uns etwas zu schenken, das für uns wichtig ist. Selbst wenn für ihn als Muslim Jesus am Kreuz nicht besonders wichtig sein dürfte, wollte er sich doch bei uns bedanken und uns eine Freude machen mit diesem christlichen Symbol.
Da war ich erst einmal sehr erstaunt – und erfreut natürlich auch. Aber dann dachte ich: wie toll ist das, dass er uns etwas schenken möchte, das uns gut tut, nicht etwas, das ihm gut tut!

Dieser Mann hat seinen eigenen Tellerrand übersprungen und hat uns ein wunderbares Geschenk gemacht. Damit war er genau in der Spur des Gottes, wie wir Christen ihn glauben.

Was können wir also mitnehmen von diesem Gott, den wir als dreifaltigen Gott verehren?
Gott nimmt verschiedene Perspektiven ein und lebt über seinen Tellerrand hinaus – er ist ein Vorbild dafür, wie man "out of the box" lebt.
Vater - Gott wartet auf uns und will uns noch mehr Chancen geben.
Sohn - Gott ist kein Gott der Gewalt, er erleidet die Gewalt der Menschen.
Heiliger Geist - Gott begabt uns und will uns mit Liebe anstecken.

Ansteckend.
Berlin, 2016.


1   R. Ford, Zwischen ihnen. München 2017, 18.
2   Ebd., 116f.