Elena Greco, die Ich-Erzählerin von
Elena Ferrantes vierbändiger Reihe "Meine geniale Freundin"
(im deutschen etwas pathetisch Neapolitanische Saga genannt), hat es
geschafft.
Die junge Frau, die aus einfachsten,
nahezu analphabetischen Verhältnissen eines Ghettos (Rione) in
Neapel kommt, hat am Ende des zweiten Bandes "Die Geschichte
eines neuen Namens" nicht nur die Grundschule und das
Gymnasium, sondern auch noch ein Studium hervorragend abgeschlossen.
Und doch merkt sie, dass ihr etwas fehlt, das alle ihre
Mitstudentinnen und -studenten zu haben scheinen. Denn "eigentlich",
sagt sie von sich, "blieb ich eine kulturell angepasste
Dilettantin, ich besaß keine Rüstung, in der ich ruhig
voranschreiten konnte, wie sie es taten."1
Roman, vor Theologie gehalten. Frankfurt (Oder), 2021. |
Die Protagonistin Elena Greco beschreibt es vor allem als das eigenartige Gefühl, die anderen mit der Bildung um ihr wahres Wesen zu betrügen, bezeichnet es als Unsicherheit und Angst: "Angst davor, einen falschen Satz zu sagen, einen übertriebenen Ton anzuschlagen, unpassend gekleidet zu sein, kleinliche Gefühle zu offenbaren, keine interessanten Gedanken zu haben."3
Nicht dazu zu gehören, anders zu sein, Angst zu haben, dass man trotz allem nicht genügend wert sein könnte, all diese inneren Zustände fußen auf den Erfahrungen mit jenen, die von Geburt an "drin" zu sein scheinen, die Gesten, Verhaltensmuster und einen Blick auf die Welt mitbringen, der ihnen erlaubt, sich im Kreis der Gebildeten und Angesehenen heimisch zu fühlen.
Es besteht also eine innere Distanz zum Kreis derer, zu denen man dazugekommen ist – das beschreibt Ferrante kongenial.
Und auf der anderen Seite die
Herkunftsfamilie: Am Anfang des dritten Bandes "Die
Geschichte der getrennten Wege" (den ich gerade lese) hat
Elena ein Buch veröffentlicht, steht im Begriff, einen Dozenten aus
einer Professorenfamilie zu heiraten – und kehrt für einige Zeit
nach Neapel zurück.
Als sie die geplante Hochzeit
ankündigt, kommt es zu einem nächtlichen Wutausbruch ihrer Mutter,
bei dem alles zur Sprache kommt, was ihr an lebeslangem Leid aus Neid
und Ärger und Zurückstehen für die Familie auf der Seele liegt:
"Für dich sind wir nicht der Rede wert, du sagst uns erst im letzten Augenblick Bescheid, das feine Fräulein hält sich für wer weiß was, weil sie studiert hat, weil sie Bücher schreibt, weil sie einen Professor heiratet, aber du bist aus diesem Bauch gekrochen, meine Liebe, und aus demselben Stoff gemacht wie wir, also halte dich nicht für was Besseres..."4
Der Aufstieg hat sie in der einen Sphäre nicht heimisch gemacht, aus der anderen jedoch so entfernt, dass es auch kein Zurück mehr gibt.
Warum schreibe ich das zu Mariä Himmelfahrt?
Weil ein Aufstieg Menschen verändert –
sei es (bei aller zugegebenen
Unvergleichbarkeit) der Aufstieg in gesellschaftlichen Hierarchien oder der
Aufstieg zu Gott.
Weil ein Aufstieg Menschen aber auch
nicht völlig umkrempelt, vieles bleibt sich im Inneren gleich und
lässt sich nicht ablegen.
Ich hätte die junge Maria gern kennen
gelernt. Aber auch die alte Frau, die als Mutter eines hochverehrten
Mannes dahinging, hätte ich gern gekannt. Wie hat sie sich wohl
gefühlt? Und mehr noch interessiert mich: Wie schaut sie jetzt "von
oben" auf dieses Fest?
Aus demselben Stoff gemacht wie wir - und doch gänzlich verwandelt...
1 E.
Ferrante, Die Geschichte eines neuen Namens. 3. Aufl. Berlin 2017,
543.
2 Für Frankreich standen dafür in den letzten Jahren besonders die
Bücher von Didier Eribon und Annie
Ernaux.
3 E.
Ferrante, a.a.O., 534.
4 E.
Ferrante, Die Geschichte der getrennten Wege. 3. Aufl Berlin 2017, 49.
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