Samstag, 14. August 2021

"...aus demselben Stoff gemacht wie wir...". Elena Ferrante an Mariä Himmelfahrt gelesen

Elena Greco, die Ich-Erzählerin von Elena Ferrantes vierbändiger Reihe "Meine geniale Freundin" (im deutschen etwas pathetisch Neapolitanische Saga genannt), hat es geschafft.
Die junge Frau, die aus einfachsten, nahezu analphabetischen Verhältnissen eines Ghettos (Rione) in Neapel kommt, hat am Ende des zweiten Bandes "Die Geschichte eines neuen Namens" nicht nur die Grundschule und das Gymnasium, sondern auch noch ein Studium hervorragend abgeschlossen. Und doch merkt sie, dass ihr etwas fehlt, das alle ihre Mitstudentinnen und -studenten zu haben scheinen. Denn "eigentlich", sagt sie von sich, "blieb ich eine kulturell angepasste Dilettantin, ich besaß keine Rüstung, in der ich ruhig voranschreiten konnte, wie sie es taten."1

Roman, vor Theologie gehalten.
Frankfurt (Oder), 2021.
Der Aufstieg durch Bildung, wie er in vielen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg möglich wurde, hinterließ bei denen, die das erste Mal in ihrer Familie studierten, die heraustraten aus der oftmals provinziellen Kultur ihrer Herkunft, ein Gefühl der Fremdheit. Die erworbenen Verhaltensmodelle passten nicht zum neuen Status.2

Die Protagonistin Elena Greco beschreibt es vor allem als das eigenartige Gefühl, die anderen mit der Bildung um ihr wahres Wesen zu betrügen, bezeichnet es als Unsicherheit und Angst: "Angst davor, einen falschen Satz zu sagen, einen übertriebenen Ton anzuschlagen, unpassend gekleidet zu sein, kleinliche Gefühle zu offenbaren, keine interessanten Gedanken zu haben."3

Nicht dazu zu gehören, anders zu sein, Angst zu haben, dass man trotz allem nicht genügend wert sein könnte, all diese inneren Zustände fußen auf den Erfahrungen mit jenen, die von Geburt an "drin" zu sein scheinen, die Gesten, Verhaltensmuster und einen Blick auf die Welt mitbringen, der ihnen erlaubt, sich im Kreis der Gebildeten und Angesehenen heimisch zu fühlen.

Es besteht also eine innere Distanz zum Kreis derer, zu denen man dazugekommen ist – das beschreibt Ferrante kongenial.

Und auf der anderen Seite die Herkunftsfamilie: Am Anfang des dritten Bandes "Die Geschichte der getrennten Wege" (den ich gerade lese) hat Elena ein Buch veröffentlicht, steht im Begriff, einen Dozenten aus einer Professorenfamilie zu heiraten – und kehrt für einige Zeit nach Neapel zurück.
Als sie die geplante Hochzeit ankündigt, kommt es zu einem nächtlichen Wutausbruch ihrer Mutter, bei dem alles zur Sprache kommt, was ihr an lebeslangem Leid aus Neid und Ärger und Zurückstehen für die Familie auf der Seele liegt:

"Für dich sind wir nicht der Rede wert, du sagst uns erst im letzten Augenblick Bescheid, das feine Fräulein hält sich für wer weiß was, weil sie studiert hat, weil sie Bücher schreibt, weil sie einen Professor heiratet, aber du bist aus diesem Bauch gekrochen, meine Liebe, und aus demselben Stoff gemacht wie wir, also halte dich nicht für was Besseres..."4

Der Aufstieg hat sie in der einen Sphäre nicht heimisch gemacht, aus der anderen jedoch so entfernt, dass es auch kein Zurück mehr gibt.

Warum schreibe ich das zu Mariä Himmelfahrt?

Weil ein Aufstieg Menschen verändert – sei es (bei aller zugegebenen Unvergleichbarkeit) der Aufstieg in gesellschaftlichen Hierarchien oder der Aufstieg zu Gott.
Weil ein Aufstieg Menschen aber auch nicht völlig umkrempelt, vieles bleibt sich im Inneren gleich und lässt sich nicht ablegen.

Ich hätte die junge Maria gern kennen gelernt. Aber auch die alte Frau, die als Mutter eines hochverehrten Mannes dahinging, hätte ich gern gekannt. Wie hat sie sich wohl gefühlt? Und mehr noch interessiert mich: Wie schaut sie jetzt "von oben" auf dieses Fest?
Aus demselben Stoff gemacht wie wir - und doch gänzlich verwandelt...

 

1   E. Ferrante, Die Geschichte eines neuen Namens. 3. Aufl. Berlin 2017, 543.
2
   Für Frankreich standen dafür in den letzten Jahren besonders die Bücher von Didier Eribon und Annie Ernaux.
3
   E. Ferrante, a.a.O., 534.
4
   E. Ferrante, Die Geschichte der getrennten Wege. 3. Aufl Berlin 2017, 49.

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