Freitag, 26. April 2019

Ein neues Leben für Annie Ernaux. Von Ostern und sozialem Aufstieg

Passend zur Osterwoche habe ich gerade das Buch "Der Platz"1 von Annie Ernaux gelesen. Es passt deshalb zu Ostern, weil die Autorin in diesem schmalen Bändchen die wachsende Kluft zwischen sich selbst und ihrer Herkunft, vor allem die soziale Distanz zu ihrem Vater thematisiert.

Anders gesagt: Sie ist eingetaucht in ein neues Leben und hat dabei jene zurückgelassen, mit denen sie so lang unterwegs war.
Das ist für beide Seiten nicht leicht und vielleicht wirft manche der geschilderten Erfahrungen ein Streiflicht auf die Beziehung des auferstandenen Jesus zu seinen Jüngern.

Das Neue schwebt schon über der alten Natur.
Zeuthen, 2019.
Denn Annie Ernaux, heute eine angesehene französische Intellektuelle, gehört aufgrund ihrer durch die Eltern ermöglichten Bildung und den zunächst ergriffenen Lehrerinnenberuf auf einmal zum Bürgertum, während der Vater als Arbeiter, der im Laufe der Zeit eine Kneipe und einen kleinen Laden erwerben konnte, in seinen "einfachen Verhältnissen" bleibt.
Diese Verhältnisse sind gekennzeichnet durch die Angst vor dem Rückfall in die Plackerei des Arbeiterlebens, durch das Bewusstsein, gebildeten bürgerlichen Ansprüchen nicht zu genügen und durch die Scham über diese nicht zu behebende Demütigung.

Gleichwohl ist die Distanz auch ein Teil der väterlichen Identität: "Bücher, Musik, das ist etwas für dich. Ich brauche so was nicht, um zu leben",2 wird er zitiert. 

Das neue Leben seiner Tochter bleibt ihm fern und unverständlich.
Schon die Tatsache, dass der Staat für die angehenden Lehrerinnen in einem eigenen Wohnheim sorgt, ja das ganze ihm unbekannte "System der lückenlosen Versorgung flößte ihm Respekt ein."3
Dass zur Lehrerausbildung anschließend noch ein weiteres Studium der Literaturwissenschaft kommt und eine junge Frau mit zwanzig Jahren noch nicht von ihrer Arbeit leben kann, ist dem alten Mann, der sich am liebsten selbst aus dem Garten versorgt, vollends suspekt.
Und über "den Louis-Philippe-Sekretär, die roten Samtsessel, die Stereoanlage" kann der Vater sich vor allem insofern freuen, "als sie Beweise für meinen Erfolg waren."4

So ein neues Leben ist eben nur schwer kommunizierbar. Jene, die in ihrem alten Leben verharren (müssen), sind gezwungen, sich mit der bleibenden Unterschiedlichkeit abzufinden.
Aber auch für die Autorin selbst bleibt die Beziehung zum Vater ambivalent, einerseits sieht sie sich in der Pflicht, die einfachen Verhältnisse schreibend zu rehabilitieren, andererseits sind ihr "die demütigenden Grenzen unseres Daseins"5 nur zu bekannt.
Im Schreiben bekennt sie: "Ich sage oft 'uns' und 'wir', weil ich lange so dachte, ich weiß nicht, wann ich damit aufgehört habe."6
Ihre Loslösung aus dem alten Milieu mag inzwischen eindeutig vollzogen sein, die Grenzen jedoch sind fließend – und die innere Verbindung bleibt bestehen.

Im Rückblick will Annie Ernaux weder spöttisch noch herablassend über ihre Herkunft schreiben, vielmehr ist es "eine Art distanzierte Liebe",7 die sich schreibend Ausdruck sucht.

Für mich war dieses Buch, das zuerst 1984 auf Französisch und in diesem Jahr erstmalig auf Deutsch erschienen ist, im Hinblick auf die Beziehungen zwischen eschatologischen und sozialen Fragen eine äußerst aufschlussreiche Lektüre.

Vorsicht vor dem Schlag.
Wildau, 2019.


1   A. Ernaux, Der Platz. Berlin 2019.
2   Ebd., 69.
3   Ebd., 74.
4   Ebd., 82.
5   Ebd., 45.
6   Ebd., 51.
7   Ebd., 19.