Anders gesagt: Sie ist
eingetaucht in ein neues Leben und hat dabei jene zurückgelassen,
mit denen sie so lang unterwegs war.
Das ist für beide Seiten
nicht leicht und vielleicht wirft manche der geschilderten
Erfahrungen ein Streiflicht auf die Beziehung des auferstandenen
Jesus zu seinen Jüngern.
Das Neue schwebt schon über der alten Natur. Zeuthen, 2019. |
Denn Annie Ernaux, heute
eine angesehene französische Intellektuelle, gehört aufgrund ihrer
durch die Eltern ermöglichten Bildung und den zunächst ergriffenen
Lehrerinnenberuf auf einmal zum Bürgertum, während der Vater als
Arbeiter, der im Laufe der Zeit eine Kneipe und einen kleinen Laden
erwerben konnte, in seinen "einfachen Verhältnissen"
bleibt.
Diese Verhältnisse sind
gekennzeichnet durch die Angst vor dem Rückfall in die Plackerei des
Arbeiterlebens, durch das Bewusstsein, gebildeten bürgerlichen
Ansprüchen nicht zu genügen und durch die Scham über diese nicht
zu behebende Demütigung.
Gleichwohl ist die Distanz
auch ein Teil der väterlichen Identität: "Bücher, Musik,
das ist etwas für dich. Ich brauche so was nicht, um zu leben",2
wird er zitiert.
Das neue Leben seiner Tochter bleibt ihm fern und
unverständlich.
Schon die Tatsache, dass
der Staat für die angehenden Lehrerinnen in einem eigenen Wohnheim
sorgt, ja das ganze ihm unbekannte "System der lückenlosen
Versorgung flößte ihm Respekt ein."3
Dass zur Lehrerausbildung
anschließend noch ein weiteres Studium der Literaturwissenschaft
kommt und eine junge Frau mit zwanzig Jahren noch nicht von ihrer
Arbeit leben kann, ist dem alten Mann, der sich am liebsten selbst
aus dem Garten versorgt, vollends suspekt.
Und über "den
Louis-Philippe-Sekretär, die roten Samtsessel, die Stereoanlage"
kann der Vater sich vor allem insofern freuen, "als sie
Beweise für meinen Erfolg waren."4
So ein neues Leben ist
eben nur schwer kommunizierbar. Jene, die in ihrem alten Leben
verharren (müssen), sind gezwungen, sich mit der bleibenden
Unterschiedlichkeit abzufinden.
Aber auch für die Autorin
selbst bleibt die Beziehung zum Vater ambivalent, einerseits sieht
sie sich in der Pflicht, die einfachen Verhältnisse schreibend zu
rehabilitieren, andererseits sind ihr "die demütigenden
Grenzen unseres Daseins"5
nur zu bekannt.
Im Schreiben bekennt sie:
"Ich sage oft 'uns' und 'wir', weil ich lange so dachte, ich
weiß nicht, wann ich damit aufgehört habe."6
Ihre Loslösung aus dem
alten Milieu mag inzwischen eindeutig vollzogen sein, die Grenzen
jedoch sind fließend – und die innere Verbindung bleibt bestehen.
Im Rückblick will Annie
Ernaux weder spöttisch noch herablassend über ihre Herkunft
schreiben, vielmehr ist es "eine Art distanzierte Liebe",7
die sich schreibend Ausdruck sucht.
Für mich war dieses Buch,
das zuerst 1984 auf Französisch und in diesem Jahr erstmalig auf
Deutsch erschienen ist, im Hinblick auf die Beziehungen zwischen
eschatologischen und sozialen Fragen eine äußerst aufschlussreiche
Lektüre.
Vorsicht vor dem Schlag. Wildau, 2019. |
1 A.
Ernaux, Der Platz. Berlin 2019.
2 Ebd.,
69.
3 Ebd.,
74.
4 Ebd.,
82.
5 Ebd.,
45.
6 Ebd.,
51.
7 Ebd.,
19.