Samstag, 12. Februar 2022

Lobpreis und Weheruf. Für eine Kirche unter dem Anspruch des Evangeliums

Wenn man die Texte des Evangeliums (Lk 6,17.20-26) heute hört, sollte man meinen, die Kirche, die sich diese Texte zu eigen macht und sie regelmäßig liest und auslegt, stünde an der Seite der Armen und Benachteiligten, sie tröste Weinende und kümmere sich um die Ausgestoßenen.

Denn es sind Zusagen an jene, die arm, hungrig, traurig und ausgegrenzt sind. Und es sind Mahnungen an jene, die heute auf der Gewinnerseite sitzen.

Kommt neues Grün aus Wintererde?
Frankfurt, 2022.
Doch wo steht die Kirche heute eigentlich?
Natürlich muss man dann erst einmal fragen, wer „die Kirche“ ist und ob sie nicht ganz unterschiedliche Orte zugleich einnimmt. Schließlich sieht die Situation hier in Frankfurt gänzlich anders aus als in Köln und für das einzige katholische Kind in einer Grundschulklasse anders als für einen Pfarrer.
Und natürlich stellt sich Kirche in vielen Bereichen mit caritativ-sozialer Hilfe an die Seite von Gebeugten und Schwachen. Aber das ist nicht alles, was zählt.

Wenn wir auf das schauen, was gerade heraussticht, auf die prägenden Nachrichten der letzten Tage und Wochen:
    Dann ist da die Veröffentlichung des Gutachtens über die Vertuschung sexuellen Missbrauchs in München mit grauenhaften Erkenntnissen über das jahrelange Decken von Missbrauchstätern – und ein Entschuldigungsversuch des emeritierten Papstes Benedikt XVI.     
    Dann ist da die Initiative „Out in church“, bei der sich über hundert kirchliche Mitabeiter:innen als nicht der heterosexuellen Norm entsprechend geoutet haben und für eine „Kirche ohne Angst“ kämpfen.
    Und dann ist da die Vollversammlung des Synodalen Weges, die sich zuletzt mit übergroßer Mehrheit für mehr Gerechtigkeit beim Zugang zu geistlichen Ämtern stark gemacht hat – vor allem dafür, dass auch Frauen Weiheämter in der Kirche erhalten.

Es ist viel in Bewegung in unserer Kirche – und an vielen Stellen scheint es um Fragen von Macht und Verantwortung, um Fragen der Sorge füreinander und um gerechte Strukturen zu gehen.

Und die Kirche steht dann eben nicht immer an der Seite der Armen und Benachteiligten, sie tröstet eben nicht immer und kümmert sich nicht um alle Ausgestoßenen.

    Wenn wir als Kirche nämlich die Weinenden selig preisen, dann sollten wir auch dafür sorgen, dass es keine Tränen wegen kirchlichen Unrechts gibt.
    Wenn wir die Ausgestoßenen selig preisen, dann sollten wir dafür sorgen, dass niemand ausgestoßen wird.
    Wenn die Reichen mit Wehe angeklagt werden, dann sollte kirchliches Geld weniger in Anwälte und Pressearbeit fließen, sondern vielmehr denen zuguten kommen, die durch die Kirche geschädigt wurden.
   
Wenn die Lachenden angeklagt werden, dann sollten wir aufpassen, dass uns kirchliche Privilegien nicht im Halse stecken bleiben und dass Macht und Verantwortung besser verteilt werden.


Kurz: Wir können uns noch so sehr anstrengen, die Welt nach Gottes Willen ein bisschen freundlicher zu machen – wenn unsere eigenen kirchlichen Strukturen nicht Gottes Gerechtigkeit fördern, dann sollten wir darüber nachdenken, wie sie zu ändern sind.
Sonst können wir solche Texte wie die heutigen redlicherweise nicht mehr vorlesen.

Darum müssen wir uns einsetzen und wo nötig kämpfen für eine Kirche, die keine Angst macht und nicht zum Verstecken zwingt.
Für eine Kirche, die ihre Ämter öffnet für Frauen, die eine Befähigung haben und eine Berufung spüren.
Für eine Kirche, die sich ihrer Schuld stellt und einen Neuanfang wagt.

Neuer Aufbruch?!
Berlin-Mitte, 2021.

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