Dienstag, 8. Februar 2022

Berührung von etwas ganz Anderem: „Überfluss“ von Wisława Szymborska

Wann eine wissenschaftliche Erkenntnis Bedeutung für uns gewinnt, kann vorher nicht immer mit Gewissheit gesagt werden. Bei der Entwicklung eines Impstoffs ist die Bedeutung leicht zu erkennen, bei der Entdeckung eines neuen Sterns eventuell etwas weniger leicht.
Auch unsere Emotionen werden unterschiedlich berührt. Ob wir bewegt werden, hängt auch von uns selbst ab.

Dies vorausgeschickt, möchte ich heute ein Gedicht der verehrten Wisława Szymborska vorstellen, das in seiner Lakonie gerade gut zu meiner Stimmung passt. Es umkreist die Wirkung, die die Entdeckung eines neuen Sterns hat, es fragt nach unserer Aufmerksamkeit, nach unserem Interesse, nach unserer Bereitschaft, eine Neuigkeit zu hören.


Und mir scheint, als wolle es in aller Lakonie auch einladen, sich (trotzdem) von dieser überflüssigen (?) Entdeckung berühren zu lassen.

Aber lest und genießt selbst:


Kleinklein am Wegesrand.
Oderwiesen bei Lebus, 2021.
Überfluss

Ein neuer Stern ist entdeckt,
was nicht bedeutet, es wäre heller geworden
und etwas, was fehlte, wäre hinzugekommen.

Der Stern ist groß und fern,
so fern, daß wiederum klein,
kleiner sogar als die andern,
die noch viel kleiner sind.
Verwunderung wäre hier nicht verwunderlich,
hätten wir dafür Zeit.

Das Alter des Sterns, die Masse des Sterns, die Lage des Sterns,
das alles reicht womöglich zu einer Doktorarbeit
und für ein bescheidenes Gläschen Wein
in dem Himmel nahestehenden Kreisen -
dem Astronom, seiner Frau, den Verwandten und den Kollegen -
ohne Kleiderzwang, bei aufgelockerter Stimmung.
Lokale Themen beherrschen die Konversation,
und Erdnüsse werden geknabbert.

Der Stern ist herrlich,
aber das ist noch kein Grund,
aufs Wohl der uns unvergleichlich näherstehenden Damen
nicht anzustoßen.

Ein Stern ohne Konsequenz.
Ohne Einfluß aufs Wetter, die Mode, das Spielergebnis,
aufs Einkommen, den Regierungswechsel, die Krise der Werte.

Ohne Folgen für die Propaganda, die Schwerindustrie.
Ohne Abbild auf der Politur am Konferenztisch.
Überzählig für die gezählten Tage.

Wozu hier fragen,
unter wie vielen Sternen der Mensch geboren werde,
unter wie vielen Sternen er etwas später sterbe?

Ein neuer.
„Zeige mir wenigstens, wo er ist.“
„Zwischen dem Rand dieses grauen ausgefransten Wölkchens
und jenem Akazienzweig, weiter links, ja dort.“
Ich sage „Aha“.



Ich wünsche euch Zeit für dieses und jenes Neue und ein offenes Herz für die weltbewegenden Dinge und manchmal sogar eines für die Dinge, die nicht so weltbewegend sind.
Lernen wir den Überfluss schätzen!


Q.: W. Szymborska, Hundert Freuden. Gedichte. Frankfurt a.M. 1986, 39f.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen