Als ich vor ziemlich genau 20 Jahren in Lwiw in der Ukraine einen Freiwilligendienst gemacht habe, bekam ich eine Menge Wunden zu sehen. Denn meine Aufgabe war damals, ehemalige Häftlinge der deutschen Konzentrationslager zu besuchen.
Manchmal waren die Begegnungen eher belanglos, manchmal schwierig (vor allem wegen meiner anfangs sehr geringen Sprachkenntnisse), manchmal auch erfrischend. Aber an irgendeinem Punkt kam die Rede fast immer auf die Verwundungen in ihren Leben.
Nicht immer, das muss ich betonen, waren es die Erfahrungen aus den Konzentrationslagern, die am meisten obenauf lagen und als am schlimmsten erinnert wurden. Manchmal waren es Erfahrungen mit Schikanen in der Sowjetunion, manchmal der Verlust eines Familienmitglieds in der jüngsten Zeit, manchmal die Einsamkeit, die aus der Tatsache folgte, dass der Sohn oder die Tochter zum Arbeiten nach Westeuropa gegangen waren.
Verwundete Ananas. Neukölln, 2018. |
Durch mich, den jungen Deutschen, wurden dann oftmals die alten Erinnerungen wieder geweckt. Und ich stand in der Verantwortung, wie ich mit den Offenbarungen umgehen kann.
Der Apostel Thomas seinen auferstandenen Herrn Jesus an den Wunden der Kreuzigung erkannt.
Für Thomas waren die Wunden sogar so zentral, dass er sich nur auf sie bezog und nichts anderes sehen wollte.
Das ist alles andere als das, was ich damals als einen guten Umgang mit den Wunden eines Menschen gelernt habe und was ich inzwischen in der seelsorglichen Ausbildung auch professionell festigen konnte – Mit bekannten Verwundungen geht man sensibel um. Denn da öffnet sich jemand von seiner verletzlichsten Seite.
Kein Wunder also, dass Jesus so harsch reagiert, auch wenn man von allen Fragen nach Glauben und Sehen und Glauben ohne Sehen mal absieht. Auf diese Weise geht man einfach nicht miteinander um, vor allem nicht dann, wenn es um so intime Fragen wie die Verwundungen geht.
Doch der Auferstandene lässt sich trotzdem darauf ein – die Begegnung ist ihm wichtig.
Er will den Kontakt mit seinem zweifelnden Freund behalten.
Auch wenn man konstatieren muss: Der Apostel Thomas verbohrte sich auf eine ungesunde Art in die Wunden Jesu.
Das gilt auch für die Situation, in der wir heute sind. Viele Ukrainerinnen sind mit fast nichts in überfüllten Zügen aus ihrem Land geflohen. Ihre Wunden sind die Erinnerungen an alle, die sie zurück lassen mussten. Ihre Wunden sind die schrecklichen Erlebnisse, denen sie oft ausgesetzt waren. Ihre Wunden sind die Nachrichtenbilder, die sie ganz anders betreffen als uns.
Oft sind es Wunden, die nicht sofort sichtbar sind. Hier ist besondere Achtsamkeit vonnöten – Stichwort „Trigger-Warnung“.
Es gibt inzwischen Menschen, die sich darüber aufregen, dass große Autos mit ukrainischen Kennzeichen durch Deutschland fahren, so als müssten alle Geflüchteten arm und verstört sein. Als sei es ukrainischen Männer erst mit Kriegsverletzungen erlaubt, nach Deutschland einzureisen.
Manchmal sind wir dem Apostel Thomas da sehr ähnlich und wollen uns durch offensichtliche Wunden beweisen lassen, dass es auch ja echte Flüchtlinge sind.
Jesus stellt dem eine andere Logik dagegen: Irgendwelche Beweiswunden sind für Jesus nicht wichtig – aber die Begegnungen mit den Wunden können wertvoll sein. Und für diese Begegnungen haben wir eine Verantwortung im Umgang miteinander.
Das betrifft die Frage nach jenen, die geflüchtet sind, aber auch alle anderen. Sich aufeinander einlassen und sensibel miteinander umzugehen gehört dazu.
Auf poetische Weise umschreibt das auch Rose Ausländer, deren Gedicht „Verschmerzen“ ich bei Johanna Beck gefunden habe.
Verschmerzen
Schön
wenn der verwundete Mensch
seine Narben verschmerzt
sich gesellt zum stillen Stein
zum beredten Wasserfall
und sich erkennt
im Blick der
Nachbarpupille
Das hört sich nach einer sanften Begegnung im beschriebenen Sinne an.
Aber das Ganze hat auch noch eine weitere Seite: Der Apostel Thomas erkennt Jesus an seinen Wunden. Und damit stellt sich Jesus Christus in eine Reihe mit allen verwundeten Menschen.
Das bedeutet auf religiöser Ebene zweierlei: Zum einen kommt Gott uns dadurch unglaublich nah. Er ist nicht nur der ferne Allherrscher, der von einem himmlischen Thron aus alles überblickt und von außen auf die Welt schaut, Gesetze erlässt, richtet und straft.
Sein Vorgehen ist nach dem biblischen Zeugnis ein anderes:
Wir sind Gott nicht gleichgültig, darum bleibt er nicht fern. Und darum lässt er sich verstricken in die Leidensgeschichte der Welt, mit allem, was dazugehört.
Blaugelbe Farbspiele. Weimar, 2022. |
Sich den Wunden und dem Leid in zugewandter und verantwortlicher Weise zu stellen und auch die religiöse Dimension darin zu erahnen - das sind alles Einsichten, die das Potenzial haben, Frieden zu schaffen – so wie Jesus in diesem Evangelium jedes Mal den Frieden wünscht.
Es ist hart (wenigstens für mich), in diesen Zeiten vom Frieden zu sprechen ohne belanglos zu werden.
Doch genau darin besteht ein wichtiger Teil der christlichen Botschaft: nicht die Gewalt ist segensreich (auch wenn es sie, gerade in der Situation in der Ukraine, braucht, um Feinde abzuwehren), sondern segensreich und friedensschaffend ist die Nähe (und sei es auch "nur" die medial vermittelte, mitfühlende Nähe) zu verwundeten Menschen.
Ich wünsche euch, dass ihr in diesem neuen Semester eine gute Aufmerksamkeit füreinander entwickeln könnt, um einander achtsam zu begegnen, aufeinander achtzugeben und sensibel auf Verwundungen zu reagieren.
Und dass ihr in all dem auch eine Ahnung von der göttlichen Nähe darin entwickeln könnt.
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