Eine bemerkenswerte Bibelstelle ist der
erste Satz, den Jesus im Neuen Testament sagt. Er steht innerhalb der
Erzählung von der Taufe Jesu bei Matthäus. Johannes der Täufer hat
sich geweigert, Jesus zu taufen und dabei ähnlich argumentiert wie
später Petrus bei der Fußwaschung: Das verkehrt doch unsere Rollen,
andersrum wäre es richtig. Daraufhin entgegnet Jesus dem Johannes:
„Lass es nur zu.“ (Mt 3,15).
Aus der Situation der Taufe am Jordan
herausgehoben, kann dieses Wort eine grundsätzlichere Deutung
bekommen und einen Perspektivwechsel ermöglichen.
Plötzlich in der Luft hängen
An manchen Tagen verpuffen unser Elan
und unsere Schaffenskraft ganz einfach dadurch, dass die Dinge völlig
anders laufen als wir sie uns ausgemalt hatten. Nur schnell noch
einkaufen fahren – und dann ewig im Stau stehen. Kurz den
Zahnarzttermin wahrnehmen – und wegen eines Notfalls doch eine
Stunde später dran kommen. Statt das eine Stockwerk zu laufen –
zehn Minuten auf den Aufzug warten.
Wenn wir in unseren alltäglichen
Geschäften aufgehalten werden ohne darauf eingerichtet zu sein,
hängen wir auf einmal im Leeren. Schnell kommt das Gefühl auf, hier
doch nur Zeit zu verlieren. Wo so viele wichtigere Dinge warten.
Zeitverlust ist Zeitgewinn
Doch: Kann man tatsächlich Zeit
verlieren? Natürlich kann man das, wenn der Tag nur aus
Zeitkontingenten und Zeitfenstern besteht, in denen möglichst viele
Dinge zu passieren haben. Wenn der Tages-, der Wochen-, ja der
Monatsplan aus dem Takt gerät, weil eine einzige Sache nicht
passiert oder auf sich warten lässt. Besteht meine Lebenszeit in
erster Linie aus dem schönen Plan, den ich daraus mache, so kann ich
eine Menge Zeit verlieren mit Dingen, die diesem Plan nicht dienen.
Doch Gott entplant das Leben: Lass es
nur zu, dass es anders wird. Wenn der Bus Verspätung hat; wenn der
Typ mit dem Schlüssel als letzter zum Treffpunkt kommt; wenn die
Bahnschranke gerade jetzt runtergeht. Wir müssen nicht mit dem
Gefühl leben, dass uns dann Zeit geraubt wird oder dass wir Zeit
verlieren. Vielmehr ist es genau andersrum: Die ungeplanten
Verzögerungen oder Stolpersteine schenken uns Zeit. Durch sie
gewinnen wir Zeit, die wir gar nicht im Blick hatten.
Die Unterbrechung gelassen annehmen
Aber wie nimmt man ein solches
ungebetenes Geschenk an? Wie geht man mit Zeit um, die man an anderer
Stelle viel besser gebrauchen könnte?
Sicher nicht so, dass die gewonnene
Zeit sofort wieder vernutzt und in meine Pläne eingebaut wird. „Dann
kann ich ja noch schnell nebenbei...“ dies oder das tun. Manchmal
bietet sich das natürlich tatsächlich an. Dann wird der Plan
einfach nur in einer alternativen Variante weiterverfolgt.
Stattdessen kann genau hier jedoch ein
Freiraum entstehen. Eine Unterbrechung für etwas, das mehr ist als
unser Plan. Ein Eingang Gottes. Wenn wir es nur zulassen.
Zunächst ist die Unterbrechung einfach
eine Entzerrung. Ich bin an manchen Tagen dankbar, dass die
Geschwindigkeit meines Alltags durch solche Situationen wenigstens
ein bisschen ausgebremst wurde. Die Hektik hatte für einen Moment
aufgehört und der Geist konnte sich entspannen. Anstatt also
ärgerlich zu werden, wenn beispielsweise der Bus nicht kommt, lässt
sich das Rumsitzen an der Haltestelle auch als kleine Freiheit
genießen. Zumal es durch schlechte Laune sowieso nicht zu ändern
ist.
Eine solche Unterbrechung kann auch
zeigen, dass sich die Erde selbst dann weiterdreht, wenn nicht alles
plangemäß verläuft. Normalerweise wird nicht sofort umgebracht,
wer zu einer Verabredung zu spät kommt. Sich dies vor Augen zu
führen, kann eine ungeheure Entlastung sein und Gelassenheit
verleihen. Der außerplanmäßige Tag ist dann nicht schon von
vornherein gestorben, sondern kann noch im besten Sinne
außergewöhnlich werden. Vielleicht gerade durch die Gelassenheit,
die den Verlust des eigenen Planes nicht so tragisch nimm und die
entstehenden Chancen nutzt. So wächst Vertrauen darauf, dass nicht
alles zusammenbricht, nur weil eine Sache nicht klappt.
Wem ungeplant Zeit geschenkt ist und
wer sich darüber nicht ärgert, der ist auch fähig, in liebevoller
Aufmerksamkeit die Menschen um sich herum wahrzunehmen. Das kann dazu
führen, dass sie als das in den Blick kommen, was sie sind –
individuelle Meisterwerke des göttlichen Vaters. Durch den
Zeitgewinn kann sich der innere Horizont öffnen und den Blick
freigeben auf den Nächsten als Bruder und Schwester.
Wenn wir den Gedanken zulassen, dass
Gott uns tatsächlich einfach mal rumsitzen lässt.