Mittwoch, 21. August 2013

Gelassener rumsitzen


Eine bemerkenswerte Bibelstelle ist der erste Satz, den Jesus im Neuen Testament sagt. Er steht innerhalb der Erzählung von der Taufe Jesu bei Matthäus. Johannes der Täufer hat sich geweigert, Jesus zu taufen und dabei ähnlich argumentiert wie später Petrus bei der Fußwaschung: Das verkehrt doch unsere Rollen, andersrum wäre es richtig. Daraufhin entgegnet Jesus dem Johannes: „Lass es nur zu.“ (Mt 3,15).
Aus der Situation der Taufe am Jordan herausgehoben, kann dieses Wort eine grundsätzlichere Deutung bekommen und einen Perspektivwechsel ermöglichen.

Plötzlich in der Luft hängen

An manchen Tagen verpuffen unser Elan und unsere Schaffenskraft ganz einfach dadurch, dass die Dinge völlig anders laufen als wir sie uns ausgemalt hatten. Nur schnell noch einkaufen fahren – und dann ewig im Stau stehen. Kurz den Zahnarzttermin wahrnehmen – und wegen eines Notfalls doch eine Stunde später dran kommen. Statt das eine Stockwerk zu laufen – zehn Minuten auf den Aufzug warten.
Wenn wir in unseren alltäglichen Geschäften aufgehalten werden ohne darauf eingerichtet zu sein, hängen wir auf einmal im Leeren. Schnell kommt das Gefühl auf, hier doch nur Zeit zu verlieren. Wo so viele wichtigere Dinge warten.

Zeitverlust ist Zeitgewinn

Doch: Kann man tatsächlich Zeit verlieren? Natürlich kann man das, wenn der Tag nur aus Zeitkontingenten und Zeitfenstern besteht, in denen möglichst viele Dinge zu passieren haben. Wenn der Tages-, der Wochen-, ja der Monatsplan aus dem Takt gerät, weil eine einzige Sache nicht passiert oder auf sich warten lässt. Besteht meine Lebenszeit in erster Linie aus dem schönen Plan, den ich daraus mache, so kann ich eine Menge Zeit verlieren mit Dingen, die diesem Plan nicht dienen.
Doch Gott entplant das Leben: Lass es nur zu, dass es anders wird. Wenn der Bus Verspätung hat; wenn der Typ mit dem Schlüssel als letzter zum Treffpunkt kommt; wenn die Bahnschranke gerade jetzt runtergeht. Wir müssen nicht mit dem Gefühl leben, dass uns dann Zeit geraubt wird oder dass wir Zeit verlieren. Vielmehr ist es genau andersrum: Die ungeplanten Verzögerungen oder Stolpersteine schenken uns Zeit. Durch sie gewinnen wir Zeit, die wir gar nicht im Blick hatten.

Die Unterbrechung gelassen annehmen

Aber wie nimmt man ein solches ungebetenes Geschenk an? Wie geht man mit Zeit um, die man an anderer Stelle viel besser gebrauchen könnte?
Sicher nicht so, dass die gewonnene Zeit sofort wieder vernutzt und in meine Pläne eingebaut wird. „Dann kann ich ja noch schnell nebenbei...“ dies oder das tun. Manchmal bietet sich das natürlich tatsächlich an. Dann wird der Plan einfach nur in einer alternativen Variante weiterverfolgt.
Stattdessen kann genau hier jedoch ein Freiraum entstehen. Eine Unterbrechung für etwas, das mehr ist als unser Plan. Ein Eingang Gottes. Wenn wir es nur zulassen.
Zunächst ist die Unterbrechung einfach eine Entzerrung. Ich bin an manchen Tagen dankbar, dass die Geschwindigkeit meines Alltags durch solche Situationen wenigstens ein bisschen ausgebremst wurde. Die Hektik hatte für einen Moment aufgehört und der Geist konnte sich entspannen. Anstatt also ärgerlich zu werden, wenn beispielsweise der Bus nicht kommt, lässt sich das Rumsitzen an der Haltestelle auch als kleine Freiheit genießen. Zumal es durch schlechte Laune sowieso nicht zu ändern ist.
Eine solche Unterbrechung kann auch zeigen, dass sich die Erde selbst dann weiterdreht, wenn nicht alles plangemäß verläuft. Normalerweise wird nicht sofort umgebracht, wer zu einer Verabredung zu spät kommt. Sich dies vor Augen zu führen, kann eine ungeheure Entlastung sein und Gelassenheit verleihen. Der außerplanmäßige Tag ist dann nicht schon von vornherein gestorben, sondern kann noch im besten Sinne außergewöhnlich werden. Vielleicht gerade durch die Gelassenheit, die den Verlust des eigenen Planes nicht so tragisch nimm und die entstehenden Chancen nutzt. So wächst Vertrauen darauf, dass nicht alles zusammenbricht, nur weil eine Sache nicht klappt.
Wem ungeplant Zeit geschenkt ist und wer sich darüber nicht ärgert, der ist auch fähig, in liebevoller Aufmerksamkeit die Menschen um sich herum wahrzunehmen. Das kann dazu führen, dass sie als das in den Blick kommen, was sie sind – individuelle Meisterwerke des göttlichen Vaters. Durch den Zeitgewinn kann sich der innere Horizont öffnen und den Blick freigeben auf den Nächsten als Bruder und Schwester.
Wenn wir den Gedanken zulassen, dass Gott uns tatsächlich einfach mal rumsitzen lässt.