Mittwoch, 9. Juli 2014

Taizé - Überwältigung, Ökumene, Landschaft

1 "Überwältigung"
Fußballspiele bieten im besten Fall eine Menge überraschender Highlights, wie die letzte Nacht eindrücklich bewiesen hat. Emotionale Überwältigung und Freudentaumel führen zu rauschhaften Zuständen und Festen. Hier zeigen sich meiner Meinung nach gemeinsame und unterschiedliche Punkte im Blick auf eine Woche Taizé, wie ich sie gerade mit einer großen Gruppe Jugendlicher aus Berlin erlebt habe: 
Die sommerliche Taizé-Erfahrung halte ich im Wesentlichen für eine Mischung aus Gemeinschaftsgefühl, Hitze, Internationalität und Stille, allesamt Elemente, die sich besonders deutlich in den Gebetszeiten zeigen. Zusammen entsteht eine Art "Praxis gemäßigter Überwältigung", wie ich es mal nennen möchte.
Kirchenanbauten in Stille, Taizé, 2014.
Es ist nicht der emotionale Rausch eines Konzertevents oder eines Fußballspiels (Live oder beim Public Viewing), bei denen Lautstärke, Abwechslung, Bewegung oder ein Feuerwerk vieler Effekte das Erleben prägen. Zugleich ist es aber noch viel weniger die still überwältigende Freude eines Museumsbesuchs oder einer Lesung.
Taizé ist Aktivität – im Gesang oder im internationalen Gespräch –, es ist Ruhe – in den Gebetszeiten oder beim Nachholen nächtlichen Schlafes –, es ist Gemeinschaft – beim Toilettenputzen, beim Spielen, beim Austausch in kleinen Gruppen, beim Essen –, es ist Genuss, Freundschaft, Offenheit, Begegnung und vieles mehr.
In allem bietet es den Jugendlichen eine Erfahrung von Selbsttranszendenz, von Hinausgehen über das eigene Ich durch all die vorgenannten Erlebnisse, die als Effekt eine intensive Erfahrung des Überwältigtseins haben (mit all den bedenklichen und weniger bedenklichen Auswirkungen, die dies haben kann).
Hoffentlich zeigt sich in der Folge dann auch das, was die Regel von Taizé als Überzeugung formuliert: "In der Regelmäßigkeit der Gottesdienste keimt die Liebe Jesu in uns, wir wissen selbst nicht, wie."1

2 "Ökumene"
In der Präambel derselben "Regel von Taizé" heißt es: "Finde dich niemals ab mit dem Skandal der Spaltung unter den Christen, die alle so leicht die Nächstenliebe bekennen und doch getrennt bleiben. Habe die Leidenschaft für die Einheit des Leibes Christi!"2
Ich konnte in der letzten Woche wachsende Gemeinschaft und einen tiefen Willen zur Einheit erkennen – ob es aber die ökumenische Einheit des Leibes Christi war, die da angestrebt wurde, möchte ich eher bezweifeln. Allerdings hat auch rein menschliche Solidarität die Kraft, über sich hinaus zu wachsen und offen zu werden für Gottes Geist. Dies klingt auch in den Vorschlägen, die die Communaté de Taizé für 2014 anbietet, an - der zweite Vorschlag lautet beispielsweise: "Über einengende Grenzen hinausgehen, um Freundschaft entstehen zu lassen."3 Eine sehr weitgefasste Formulierung, die durch die Identifikation Christi mit den "Geringsten" (Mt 25,40) begründet wird und sowohl die soziale als auch die ökumenische Dimension umfasst.
Glockenturm, Taizé, 2014.
Sehr passend zu dieser weiten Sprache und meinen Eindrücken von den Jugendlichen fand ich einen Gedanken des Gründers von Taizé, Frère Roger, noch aus den 1970ern:
"Die Jugend der Jahre 1950 bis 1965 stand den Institutionen der Kirche feindselig gegenüber, die heutige Jugend wird ihnen gegenüber gleichgültig. Sie interessiert sich wenig für Reformen, sie verlangt, dass Neues geboren wird. Ihr Vertrauen gilt zunächst Personen, Erfahrungen aus dem Leben, Menschen, die Gemeinschaft leben. Wenn die konfessionellen Institutionen versuchen, auf die Jugendlichen zuzugehen, argwöhnen sie, man wolle sie vereinnahmen."4
Ich glaube, dass das auch heute weitgehend noch so gilt und Taizé hier einen überkonfessionellen und wenig institutionell wahrgenommenen Kontrapunkt darstellt. Möglicherweise bewahrheitet sich angesichts der meist wenig anziehenden Gemeindewirklichkeit in den christlichen Kirchen auch die hoffnungsfrohe Intuition Frère Rogers, die er in seinem Tagebuch am 23. März 1972 festhält: "Wenn heute da und dort in der Welt bestimmte christliche Institutionen zerfallen, wird das letztlich etwa zum Besten der Kirche sein ... vielleicht mit Blick auf eine kommende Gemeinschaft?"5

3 "Landschaft"
Nach dem Abendgebet habe ich das Gelände oft verlassen, um einen Spaziergang in der Stille zu machen. Die Landschaft von Burgund mit ihren Tiergeräuschen, der spärlichen Bebauung und den wellenförmigen Hügeln ist ein Genuss!
Für Frère Roger muss es ähnlich gewesen sein, zumal er in der Landschaft immer wieder Neues entdeckte, was mir als Stadtmenschen gar nicht auffiel. Für ihn war die Landschaft Quelle von Kraft und Freude auch im Blick auf die durch Mauern geprägten Landschaften der Kirchen, die es zu überwinden gilt.
Die Motive von Stille, Ökumene, Landschaft und Gemeinschaft bündeln sich in einem Tagebucheintrag vom 26. Mai 1970, der mich sehr berührt hat und den ökumenischen und monastischen Geist von Taizé gut zusammenzufassen scheint:
"Wiederentdeckung unserer Landschaft: Jenseits der Mauer um das Grundstück gibt es unbekannte Bereiche. Es war notwendig, eine Tür durchzubrechen, die seit eh und je gewünscht wurde, damit wir das Haus endlich in Richtung Norden verlassen und in der Einsamkeit den Hügel entlanggehen können, während ganz nahe so viel Leben herrscht."6

Einzelne Herdentiere, bei Taizé, 2014.

1   Die Regel von Taizé, 5. Aufl. Gütersloh 1969, 17.
Die Regel wurde mehrfach verändert – ich zitiere aus der mir vorliegenden Fassung.
2
   Ebd., 13.
3   Vorschläge für 2014. Auf der Suche nach sichtbarer Gemeinschaft all derer, die Christus lieben: http://www.taize.fr/de_article16231.html.
4   R. Schutz, Kampf und Kontemplation. Auf der Suche nach Gemeinschaft mit allen. Freiburg i.Br. 1974, 54.
5   Ebd., 122.
6   Ebd., 14.

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