Samstag, 19. Juli 2014

Der 20. Juli 1944 – Welche Ernte gibt es?

Weizen und Unkraut wachsen gemeinsam empor; wenn die Felder gepflegt werden, kommt nicht nur das Gute, sondern auch das Schlechte aus der Erde heraus. "Lasst beides wachsen bis zur Ernte" (Mt 13,30) befiehlt der Bauer im Evangelium des heutigen Sonntags (Mt 13,24-30) seinen Arbeitern. Denn zur Zeit der Ernte wird beides seinen Platz finden – in der Scheune oder im Feuer.

Im großen Gedenkjahr 2014 wird vielerorts gefragt, was das Erbe des Deutschen Kaiserreiches war, durch das der Erste Weltkrieg vor hundert Jahren maßgeblich verschuldet wurde und in dessen Folge es letztlich unterging. Welche Mentalitäten wirkten weiter, welche Strukturen schwächten die Weimarer Republik, welche Kontinuitäten lassen sich ins "Dritte Reich" verfolgen?

Blattwerden, Wald bei Birkenwerder, 2014.
Es findet sich viel Unkraut: der Hass der alten Eliten auf die neue republikanische Ordnung von Weimar, der Dünkel und die bleibende Macht der hohen Militärs, der Obrigkeitswahn, der Antisemitismus, die rassistisch motivierte Kriegsführung "im Osten", die sich im Zweiten Weltkrieg wiederholt und ausweitet und vieles mehr.1

Aber es gab auch Weizen: woher sonst hätten ein Walther Rathenau, ein Gustav Stresemann und nicht zuletzt all die Widerständler aus allen Gesellschaftsschichten kommen sollen? Fast alle sind im Kaiserreich geboren und haben aus unterschiedlichsten Motiven gegen das Hitler-Regime gekämpft. "Ein tiefer Glaube an Gott und sein Walten gab vielen Widerständlern Rückhalt und Rechtfertigung. Alle hatten ein durchdringendes Verantwortungsgefühl – ein Pflichtgefühl aus Tradition, im Dienste der Humanität, überzeugt von den Geboten der Menschlichkeit."2 Wenige haben den Nationalsozialismus überlebt, v.a. im Gefolge des missglückten Attentates vom 20. Juli 1944 wurden Unzählige ermordet.

Mir geht es an dieser Stelle nicht um Hergänge von Taten oder tiefere Motive der Handelnden, sondern um eine Besinnung auf das Erbe des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Im Bild: welche Ernte bleibt, was haben die Toten uns zu sagen? Vor allem: was gibt uns Heutigen noch Anstoß, wenn wir auf die Widerständler schauen?

Angesichts einer seit 65 Jahren funktionierenden parlamentarischen Demokratie sind das Streben nach dem Ende von Willkürherrschaft, der Wunsch nach Rechtssicherheit und Menschlichkeit sicher deutliche Anstöße, die auch eine Verwirklichung gefunden haben (seien wir nun in ihrer heutigen Ausprägung damit zufrieden oder nicht).
Europa in Deutschland, Reichstagsgebäude, Berlin, 2014.
Fraglich ist aber, welche Ernte uns denn hinterlassen werden sollte, da die verschiedenen Widerstandsgruppen, je nach Herkommen und Ausrichtung, sehr differierende Ansichten über ihre Ziele für die Zeit nach dem "Tausendjährigen Reich" hatten. Bei allen Ambivalenzen, was die Motive und Wünsche der Männer und Frauen besonders des bürgerlichen und militärischen Widerstandes angeht, bei allen Anfragen an ihre Sprache und trotz der Zeitgebundenheit vieler politischer Ansichten können einige Anregungen immer noch zum Nachdenken bringen. Doch das Pathos und der betonte Konservatismus vieler Aussagen bleiben uns zumeist sehr fremd.
Ein Ausschnitt aus dem Schwur Claus Schenk Graf von Stauffenbergs von Anfang Juli 1944 spiegelt diese Fremdheit und diese Ambivalenzen wider: "Wir wollen eine Neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen. Wir wollen ein Volk, das in der Erde der Heimat verwurzelt den natürlichen Mächten nahe bleibt, das im Wirken in den eigenen Lebenskreisen sein Glück und sein Genüge findet und in freiem Stolze die niederen Triebe des Neides und der Missgunst überwindet."3
Da mischen sich Mystifizierung des Volkes, freiheitlicher Aufbruch, Stefan-George-Denken, tiefe Humanität und vieles mehr ineinander – Stauffenberg bleibt "ein schwieriger Held".4
Was m.E. trotzdem als aufregendes Erbe von ihm und anderen Männern und Frauen des Widerstands für die unsere Gesellschaft bleibt:

1) Die Orientierung am Gewissen
Trotz Indoktrination und Propagandawirbel eine eigene Orientierung behalten, die mehr als das eigene Fortkommen und den behaupteten Vorrang des eigenen Volkes kennt, das war eine enorme Leistung in der damaligen Zeit. Es beinhaltet auch die Leistung, sich als Individuum in einer Zeit des Massenwahns gegen diesen Wahn und gegen viele Formen der Gemeinschaft stellen zu müssen. Dahinter steht die "Frage nach der ethischen Substanz ... Wo kam denn dieser Stachel des 'Anstands', den andere damals so nicht in sich fühlten, und wo kam der Mut zum Handeln her? Ich selber glaube, es gibt eben in manchen Menschn eine innere Stimme, die es ihnen schwerer macht, Unrecht gefahrlos zu ertragen als in den Gefahren des Widerstandes gegen das Unrecht zu kämpfen."5 So befindet Klaus von Dohnanyi, Sohn des Widerständlers Hans von Dohnanyi.

Grab im Grün-Gelb, Johannisfriedhof,
Jena, 2014.
2) Die Frage nach dem Einsatz von Gewalt als letztes Mittel
Das eben Zitierte gilt selbstverständlich gerade vor dem Hintergrund der Unsicherheit über die Rechtmäßigkeit des eigenen Tuns. Dies illustriert die von damaligen Theologen ausgetragene Kontroverse über die Frage nach der Möglichkeit des Tyrannenmordes – eine Kontroverse, die zeigt, dass auch maßgebliche christliche Denker sich uneins waren, wie mit dem Terror umzugehen sei. Für Dietrich Bonhoeffer bedeutete diese Frage ein enormes Ringen, das S. Dramm so zusammenfasst: "Es ist eine Frage, die nur angesichts einer konkreten, ausweglosen Situation gestellt werden kann. Jeder Mensch hat für sich allein und vor Gott seine Entscheidung zu verantworten. Ein Ja kann gerade aus Verantwortung notwendig sein, aber es bleibt Durchbrechung des Tötungsverbotes. Aus dem Ja im Grenzfall darf nicht erneut ein Prinzip der Gewaltanwendung, darf keine generelle Maxime des Handelns werden."6
Angesichts der brutalen Brüche des Völkerrechts in verschiedensten Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten stellt sich auch uns diese Frage ganz konkret.

3) Die Bereitschaft, etwas für die eigenen Ideale zu opfern
Aus der vorigen Fragestellung folgt wiederum die Tatsache, dass man trotz eines Guten, das möglicherweise durch das eigene Handeln entsteht, auf anderer Ebene doch schuldig wird. Persönliche Schuld als mögliche Folge des eigenen Handelns auf sich zu nehmen, in der Überzeugung, dass es grundsätzlich richtiger ist, zu handeln als nicht zu handeln – das ist ein starkes Stück und prägte auch Bonhoeffers Gedanken.
Über die Bereitschaft zur Übernahme von Schuld um eines höheren Gutes willen hinaus gehört aber auch das, "was den Kern des Widerstandes ausmachte", nämlich die "Bereitschaft, das eigene Leben zur Beendigung des Schreckens in Europa einzusetzen".7 
Das Selbstopfer des eigenen Lebens zu riskieren, ohne es als "Selbstmordattentäter" wegzuwerfen, steht ebenfalls als große Ambivalenz in der Religionsgeschichte, in der gut unterschieden werden muss zwischen dem Jesus aus Nazareth, der freiwillig ans Kreuz ging, den frühchristlichen Martyrern der römischen Kaiserzeit und den mulimischen Gotteskriegern unserer Tage.8

4) Die Einsicht in die Grenzen menschlicher Gesetzgebung 
Waren die Möglichkeit der Auflehnung gegen die "Volksgemeinschaft" und die Frage des Tyrannenmordes zuerst in zivilen Dimensionen beheimatete Problemstellungen, so war die Bindung der Wehrmachtsangehörigen durch den Eid auf den "Führer des Deutschen Reiches und Volkes"9 noch enger. Nicht nur das Töten des Oberbefehlshabers der Wehrmacht, sondern der Bruch ihres einmal geleisteten Eides waren für viele Wehrmachtsangehörige jenseits des Denkmöglichen.
Wenn Eidesleistung und Gesetzgebung aber zur massenhaften Entrechtung und Entmenschlichung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, zu brutalster Gewaltanwendung und zum Bruch elementarster menschlicher Normen führen, dann finden Eid und Gesetz eine Grenze, nach christlicher Ansicht am Wort Gottes: "Genau diese Grenze wurde von den Nationalsozialisten überschritten. Axel von dem Bussche hat unmittelbar nach dem Krieg treffend darauf hingewiesen, dass eines der maßgeblichen Motive für die Tat vom 20. Juli 1944 gewesen sei, der um sich greifenden Unmenschlichkeit Einhalt zu gebieten."10
Diese juridisch-moralische Unterscheidung zwischen dem Weizen und dem Unkraut, dem "rechten Recht" und dem Unrecht gewordenen Rechtssatz war lebenswichtig für die Widerständler, denn "der Schein der Legalität verdeckte die Wirklichkeit des um sich greifenden Unrechts",11 jedenfalls für den Großteil der Bevölkerung.

Ausgebrannter Bus, Prenzlauer Berg, Berlin, 2014.

Dem individuellen Gewissen folgend in moralische Dilemmata von Gewalt und Schuld hineinzugehen und sogar sich selbst in Gefahr bringen, diese Extreme liegen uns im mitteleuropäischen Alltag sicher selten so krass zur Entscheidung vor. Wie viel leichter fällt es uns, Gesetze zu hinterfragen – die Orientierung jenseits eines gesellschaftlichen Mainstreams bleibt allerdings oft vage. Indivduelle Gewissensbildung erscheint mir eher als ein Randthema.
Und dann gar die Frage, was uns unsere liberalen und demokratischen Selbstverständlichkeiten denn wert seien, was wir für sie zu opfern bereit wären...

Die Nazis wollten den Weizen verbrennen und ihr Unkraut übrig lassen. Trotz ihres ausufernden Mordens ist das nicht gelungen. Ich glaube, das Erbe des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus ist eine reiche Ernte, die freilich selbst gut durchsiebt werden muss, damit wir dann daran gehen können, kleine Brötchen daraus zu backen.



1   Vgl. V. Ullrich, Die nervöse Großmacht 1871-1918. Aufstieg und Untergang des Deutschen Kaiserreichs. Erweiterte Neuausgabe Frankfurt a.M. 2013, 584-592.

2   F. Stern, Ansprache am 20. Juli 2010 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin. München 2011, 6.

3   Zit. nach: U. Schlie, „Es lebe das heilige Deutschland“ - ein Tag im Leben des Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Ein biographisches Porträt. Freiburg i.Br. 2009, 144f.

4   Ebd., 146. Dort finden sich 146ff auch ausführliche Stellungnahmen zu den Nachkriegsdiskursen und -berwertungen von den verschiedensten Seiten und mit verschiedensten Stoßrichtungen ihrer Kritik. Viele ehemalige Militärs und liberale Demokraten mochten den Widerstand der Stauffenberg-Gruppe schließlich aus fast entgegengesetzten Gründen nicht!

5   K. v. Dohnanyi, Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933 bis 1945" in der Paulskirche zu Frankfurt am Main, 25. Januar 1998. In: T. Vogel, (Hg.), Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945. Begleitband zur Wanderausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. 6. Aufl. Hamburg, Berlin, Bonn 2001, 379-392, hier: 385.

6   S. Dramm, V-Mann Gottes und der Abwehr? Dietrich Bonhoeffer und der Widerstand. Gütersloh 2005, 211. zit.n.: http://www.ekd.de/medien/film/bonhoeffer/buchtipps_v_mann_gottes_dramm.html

7   K. v. Dohnanyi, a.a.O., 392.

8   Vgl. dazu sehr instruktiv und differenziert: K. Mertes, Sein Leben hingeben. Suizid, Martyrium und der Tod Jesu. Würzburg 2010. [Ignatianische Impulse 46]

9   So die Formulierung vom 02.08.1934 (http://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%BChrereid).

10   U. Schlie, a.a.O., 134.


11   F. Stern, a.a.O., 9.