Die derzeit stattfindende „Woche der Brüderlichkeit“,
die die Beziehung zwischen Juden und Christen stärken und vertiefen
soll, rutscht bei mir meistens unter die Wahrnehmungsgrenze.
Dabei ist der Dialog zwischen Juden und
Christen genauso nötig wie die theologische und lebenspraktische
Auseinandersetzung mit dem Islam.
Deshalb sei an dieser Stelle ein Zeuge
vorgestellt.
Er bietet eine weniger von
theologischen und aktuellen religionsdialogischen Diskursen
aufgeladene Perspektive, sondern schöpft aus seiner Lebenserfahrung
und persönlichen religiösen Reflexionen, die von dieser Erfahrung
gesättigt und von jüdisch-rabbinischem Geist gefüllt sind.
Es handelt sich um Jehuda Bacon, israelischer Künstler, geboren 1929 in Mährisch-Ostrau, jüdischer Überlebender von Auschwitz, der in einem vor kurzem erschienenen Gesprächsbuch von Manfred Lütz viele Gedanken zu seinem Leben, zum Menschsein, zur Frage von Schuld und Versöhnung, aber auch zu seiner religiösen Perspektive auf Auschwitz und das Leiden des Volkes Israel preisgibt.1
Leere hält Raum frei. Urbanhafen, Kreuzberg, Berlin 2013. |
In allem zeigt er sich, auch durch die
Fragen von Manfred Lütz geführt, als eine tiefreligiöse und
mystisch empfindende Person, die in ihrer eigenen religiösen
Tradition verwurzelt ist und dabei einen sehr offenen Blick auf
andere Glaubensüberzeugungen hat.
Gott ist, so betont Bacon mehrfach, dem
menschlichen Begreifen transzendent entzogen, „man hat ihn
niemals in der Tasche. Was man in der Tasche hat, ist die eigene
Dummheit, aber nicht Gott, das Ewig-Transzendente.“2
Aus dieser bescheiden-souveränen
Einsicht folgt für ihn ein sehr weites Verständnis von religiöser
Erfahrung bzw. Gotteserfahrung. Das Aufblitzen eines anderen und
tieferen Sinnes in einer alltäglichen, vielleicht schon mehrfach
erlebten Situation öffnet den Blick auf die Wirklichkeit Gottes –
ganz so, wie die Liebe einen Menschen plötzlich in völlig neuem
Licht sehen lässt: „Liebe ist ein Wunder, das sich plötzlich
enthüllt, man kann es nicht wollen, es ist da oder nicht.“3
Gerade der Blick des Künstlers Bacon
eröffnet eine religiöse Dimension in künstlerischen Zusammenhängen
– „weil Kunst grundsätzlich eigentlich die Türen öffnet für
ein Erlebnis im höchsten Sinn, eine transzendentale Erfahrung,
meistens ein religiöses Erlebnis. Selbst wenn sie [einige Künstler]
sagen, ich hab‘ keine Religion, dann ist doch das, was sie
schaffen, für mich ein Zeichen von diesem Erlebnis.“4
Besonders bei Rembrandt, aber auch bei Van Gogh ebenso wie bei Celan
oder in Bachs Matthäuspassion erkennt Bacon diese Tiefe.
Seinen eigenen Schülern an der
Jerusalemer Bezalel-Akademie hat er auch aus diesem Grunde die
Möglichkeit geben wollen, ihre eigenen Visionen und Talente so zu
entwickeln, dass sie nicht in die Schemata ihrer Lehrer rutschen,
sondern nur das jeweils Passende für sich herausgreifen und dann
eigenständig und individuell Erfahrungen machen müssen, um
„dasselbe von neuem und vielleicht viel tiefer und anders zu
erkennen“5
und dann „das Einmalige, das jeder Mensch hat, zum Ausdruck zu
bringen.“6
Diese innere Weite zeigt sich auch in
der Versöhntheit mit seiner eigenen Lebensgeschichte und den
Menschen, die an seinem Leid schuld waren: „ich wollte nicht,
dass es den Nazis gelingt, aus mir einen kleinen Nazi zu machen,
einen Menschen, der voller Hass ist.“7
Augenscheinlich ist ihm dies gelungen. Denn nach seinen moralisch
differenzierenden Aussagen beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt und
der Zusammenarbeit mit deutschen Autoren und Künstlern wird sein
Werk nun zu großen Teilen in Würzburg verwaltet.
Doch nicht nur sein Blick auf die
Deutschen ist versöhnt und zugleich differenziert. Auch auf
religiöser Ebene gelingt Bacon dieser Blick voll Frieden und
Anerkennung der Andersheit der Anderen.
Aus religionsphilosophischer Sicht
finde ich persönlich seine Gedanken zu Gott äußerst spannend. Sie
lassen die schon genannte Transzendenz Gottes groß sein und weiten
sie hin bis auf den Menschen, so dass Bacon zu der schönen
Formulierung gelangt:
Voller Möglichkeiten. Kletterwand, Christian-Schreiber-Haus, Grünheide 2016. |
„Das Wissen um Gott, das heißt,
das Wissen darum, dass man auch anders leben kann, dass man anders
sehen, anders empfinden und als Mensch anders lieben kann, das bringt
das Glück. Wir versuchen das ja täglich, versagen aber leider
meistens, doch es bleibt eine Möglichkeit.“8
Bei all unseren Grenzen also sieht
Bacon, dass wir Menschen (fastenzeitlich gesprochen) immer die
Möglichkeit zur Umkehr und Wandlung, aber auch zum Mehr und
Ganz-anders haben – und das gerade dies schon eine Spur Gottes in
der Welt ist, die glücklich machen kann.
Menschliches Anderssein als befreiendes
Wirken Gottes, als Möglichkeit, neu und anders zu leben.
Ähnliches gilt nach Bacon für das
Christentum und seine Beziehung zum Judentum. Es gibt die Vielfalt
der Perspektiven, aber den einen Gott:
„Das eine ist, Jesus mit den Augen
eines Christen gesehen, das andere ist, Jesus mit den Augen eines
Juden gesehen. Für mich ist klar, wir Juden und wir Christen, wir
sind eben so geboren. Aber von wem sind wir geboren? Vom selben Gott!
Die Probleme gibt es nur, weil wir alle Menschen sind.“9
Das mag theologisch nicht vollends
befriedigen oder auf dem aktuellen Stand der religionsdialogischen
Debatte sein. Doch es ist das Lebenszeugnis eines Menschen, der die
Versöhnung zwischen Christen und Juden authentisch lebt. Und der
dies folgerichtig auch von den Christen erwartet.
Nach dem Krieg war ein leuchtendes
Beispiel für ihn Přemysl
Pitter, in dessen Kinderheimen er zunächst unterkam. Dieser
christliche Pädagoge sah in jedem der ihm anvertrauten Kinder den
Abglanz Gottes, so dass er unterschiedslos allen half – ein
interreligiöses Glaubenszeugnis, das Bacon unmittelbar ansprach und
augenscheinlich auf ihn abfärbte.
Sicher waren es auch diese Erlebnisse
mit Christen, die ihn zu der Erkenntnis kommen lassen: „Für
mich sind Christen und Juden wirklich Brüder, die auf verschiedenen
Wegen gehen. Und wenn man tiefer liest, dann spürt man den engen
Zusammenhang auch und man versteht, dass sie sich so nahe sind, dass
sie sich nicht einmal trennen können. Wir haben so viel Gemeinsames
und darauf baue ich.“10
Licht aus dem geöffneten Himmel. Kapelle des Christian-Schreiber-Hauses. Grünheide 2016. |
1 J.
Bacon, M. Lütz, „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden.“
Leben nach Auschwitz. 2. Aufl. Gütersloh 2016.
2 Ebd.,
97.
3 Ebd.,
172.
4 Ebd.,
152.
5 Ebd.,
156.
6 Ebd.,
158.
7 Ebd.,
134.
8 Ebd.,
177.
9 Ebd.,
171.
10 Ebd.,
175.