Samstag, 19. September 2020

Supergerechtigkeit. Gefangen im Weinberg

Wie wird man einem Menschen und seinem Tun gerecht?

So fragt beispielsweise das Sonntagsevangelium (Mt 20,1-16) von der Bezahlung der Arbeiter im Weinberg.

Ich möchte auf diese Frage mit einer Provokation aus meiner Arbeitswelt antworten:

Gerecht wäre es, Menschen, die wegen eines Verbrechens inhaftiert sind, besonders anständig und zuvorkommend, besonders freundlich und hilfsbereit zu behandeln und ihnen besonders gute Chancen zu geben, sich weiter zu entwickeln.

Das ist erklärungsbedürftig: Wenn sie es zuvor nicht geschafft haben, (selbst)verantwortlich zu leben, werden sie es wohl kaum lernen, wenn sie in einer Haftanstalt wenig bis keine Möglichkeiten haben, auszuprobieren, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen.

Sie müssten also regulär die Möglichkeit bekommen, echte Verantwortung einzuüben, wo das heutige Gefängnis ihnen fast alle Entscheidungen abnimmt.

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich?!
U-Bahnhof Westhafen, Berlin, 2020.
Ähnlich beschreibt es der ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli:

Straffällige lernen also in Haft gerade nicht, Entscheidungen zu treffen, vor allem nicht die richtigen. Vielmehr werden die Inhaftierten aller Entscheidungsnotwendigkeit, aber auch -möglichkeit enthoben; sie werden juristisch gesprochen entmündigt.“1

Weder für ihre Familien noch für ihr eigenes ökonomisches Auskommen können sie in Haft sorgen, nicht über ihren Haftraum und wenig über ihre Nahrung entscheiden. Es gibt feste Aufschluss- und Einschlusszeiten, geringe Auswahl bei der Arbeit und äußerst eingeschränkte Freizeitbeschäftigungen.

Das Gefängnis ist in der Regel kein Ort, wo man sich selbst so kennenlernen und begleitet reflektieren kann, dass ein wirklicher Lerneffekt daraus erwächst. Lernen erfolgt vielmehr durch eine fehlerfreundliche Atmosphäre, durch positive Bestätigung bei Erfolgen und durch sanfte Korrekturen bei Fehltritten.

Fehler aber kann sich ein Inhaftierter nicht erlauben; Disziplinarmaßnahmen, der Verlust von Vergünstigungen und der Verlust einer kürzeren Haftdauer sind schnell bei der Hand. Verfügungen von spürbaren Hafterleichterungen dagegen werden äußerst sparsam angewandt.

Wie aber soll“, fragt Galli deshalb, „soziale Verantwortung in einem Umfeld gelernt werden, das mit der Realität, in die die Inhaftierten irgendwann fast alle wieder entlassen werden, nichts zu tun hat?2

Das große Zauberwort des Justizvollzugs heißt „Resozialisierung“ – nur wie soll Resozialisierung funktionieren in einem von Ohnmacht und Gewalt, Anpassungsdruck und Unsicherheit geprägten System?


Klare Kanten.
Wildau, 2019.
Sicher braucht es Klarheit, deutliche Grenzen bei Rechtsverletzungen und Konsequenzen bei wiederholten Missbrauch gesellschaftlicher Konventionen. Aber ich zweifle, dass das aktuelle System des Justizvollzugs für die meisten Fälle die richtige Lösung ist. Das Buch von Thomas Galli macht das an einer großen Reihe von Beispielen, die ich zum überwiegenden Teil sehr gut nachvollziehen kann, sehr gut deutlich.

Die Provokation, mit der ich eingestiegen bin, zielt auf die vorherrschende Logik – eine juristische Logik, die auf der ökonomischen aufsitzt. Eine Logik, die Vergeltung zum Maßstab macht: Wo etwas geleistet wird, muss dafür entsprechend gezahlt werden. Wo ein Gesetz übertreten wird, muss dafür entsprechend bestraft werden.

Das ist eine Logik, die in vielen Bereichen unseres Lebens richtig und wichtig ist – aber eben nicht in allen. Und vor allem darf es nicht die einzige Logik bleiben.

Zum Beispiel: Fehlt jemandem soziale Kompetenz, sind wir als Gesellschaft gut beraten, dieser Person durch das Vorleben und Einüben sozialer Kompetenz zu helfen, nicht durch das Abschieben auf den letzten Platz. „Wenn jemand Straffälligkeit reduzieren will, wäre es daher oft sinnvoller, das Selbstwertgefühl zu stärken, statt es noch weiter zu schädigen.3, meint Galli.

Nicht selten kommen Gewalttäter aus Beziehungen, in denen sie selbst Gewalt erfahren haben. Der lange und anstrengende, aber eben auch sinnvollste Weg aus dieser Spirale von Gewalterfahrung und -ausübung herauszukommen, ist sicher nicht Gewalt, und sei es Gewalt durch Freiheitsentzug in einer Atmosphäre der Gewalt.

Ich bin mehr und mehr der Überzeugung, dass die Überwindung der Vergeltungslogik hin zu einer Verantwortungslogik ein großer Fortschritt hin zu mehr Gerechtigkeit wäre.4

Ein ähnlicher Wechsel der Logiken findet sich im Sonntagsevangelium von den Arbeiter im Weinberg und ihrer ungerecht-gerechten Entlohnung.

In der Logik des Gottesreiches gilt: Nicht die Menge der Arbeit ist Maß ihres Lohns, sondern ihre Lebensmöglichkeiten.

Das ist wahrhaft christliches Handeln.

Irgendwann werden fast alle Inhaftierten wieder in der Gesellschaft ankommen (müssen) und es wäre wohl besser, wenn sie ihr Leben nicht nur aus Angst vor erneuter Haft leben, sondern befähigt und gewillt, ein anderes Leben zu leben als zuvor. Dazu müssen sie eine andere Logik auch kennenlernen.

Christliches Handeln in der Logik des Reiches Gottes hieße hier: Wir werden der Mehrzahl der Inhaftierten am gerechtesten, wenn wir ihre Defizite nicht durch Haft bestrafen, sondern durch kontrollierte und regulierte Weisen, in denen sie Wiedergutmachung anstreben und (soziale) Verantwortung einüben können. Ist die Strafe dagegen purer Freiheitsentzug und wird die Höhe der Strafe vornehmlich durch die Schuld bestimmt, bleiben sowohl die Opfer außen vor als auch die Konzentration auf die Weiterentwicklung des Täters.


Diese juristischen und gesellschaftlichen Fragen kann ich hier nur anreißen und empfehle, besonders zum Thema Alternativen zum Strafvollzug und damit verbundene Schwierigkeiten und Hürden, das oben zitierte Buch „Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen“.

 

 

1   T. Galli, Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen. Hamburg 2020, 65.

2   Ebd., 62.

3   Ebd., 66.

4   Vgl. ebd., 170ff. 181ff.

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