Samstag, 12. September 2020

Wie lerne ich, gern zu vergeben? Predigt im Gefängnis

Mitten in die Predigtvorbereitung über das heutige Evangelium von der Vergebung (Mt 18,21-35) wird mir in der Nacht zu Freitag mein Fahrrad aus dem Hof geklaut. Das vierte geklaute Rad in acht Jahren in Berlin.
Da fällt es mir schwer, über Vergebung nachzudenken.
Weil ich selbst betroffen bin.
Sitze ich in der JVA jemandem gegenüber, der von seinen Straftaten erzählt, kann ich leichter Verständnis aufbringen. Ich bin ja nicht der Geschädigte, nur der Seelsorger, der dann die Lebensumstände und den Suchtdruck des Inhaftierten bedenkt und sich wohlwollend verhalten kann.
Aber wenn es um mich selbst geht, werde ich aggressiv.
Und dann dieses Evangelium!
Wie hoch ist die Hürde?
Neukölln, 2020.
Vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen frage ich mich, was den Knecht, dem der Riesenhaufen an Schulden erlassen wurde, daran hindert, seinem Schuldner dessen ungleich geringere Schulden zu erlassen.
Mir wurde etwas genommen und es fällt mir schwer zu vergeben - ihm wurde etwas geschenkt und trotzdem vergibt er nicht.
 
Allgemeiner gefragt: Wie schwer ist es zu vergeben?
Dort ist einer, der etwas geschenkt bekommt – und dann verschlossen bleibt.
Hier sitzen Sie, die vom Gericht mit einer Freiheitsstrafe bestraft wurden, denen also nicht vergeben wurde – und Sie werden aufgefordert, sich zu öffnen und als bessere Menschen aus dem Gefängnis zu gehen.
Und ich ärgere mich über den Diebstahl – und soll nun über Vergebung predigen.
Schwierig.
„Bringt denn der Knast auch was?“, werde ich immer mal gefragt. Ich bin dann sehr zurückhaltend mit meinem Urteil.
Denn die Vergeltungslogik setzt sich ja fest. Jemand tut etwas Schlechtes und Strafwürdiges, dafür wird er bestraft. Ob das seine eigene Großzügigkeit und Vergebungsbereitschaft fördert, darf sehr bezweifelt werden. Zumal ja die Statistiken zeigen, dass auch das Ziel der Resozialisierung oft verfehlt wird, das ja "nur" darin besteht, dass keine oder weniger Straftaten verübt werden.
Und wer sich in Haft ungerecht behandelt fühlt, bei dem wird sich auch noch das Gefühl festsetzen, ein Opfer der Justiz zu sein.

Wie kann es denn aber klappen mit der Großzügigkeit, mit der Vergebung, mit der Versöhnung?
Das Evangelium gibt mit dem negativen Beispiel ja eigentlich die Richtung vor:
Wenn jemand reich beschenkt wurde, dann sollte es ihm selbst leichter fallen, großzügig zu sein.
Wenn jemandem vergeben wurde, sollte es ihm leichter fallen, selbst zu vergeben.

Es geht um eine Art Lerneffekt.
Das beginnt bei kleinen Dingen: Ich sehe zum Beispiel, dass mein Alltag ohne Fahrrad zwar unbequemer ist, ich aber trotzdem Grund zur Dankbarkeit für mein Leben habe.
Ich muss keine Angst haben, dass meine Kinder morgen nichts zu essen bekommen. Ich muss mich nicht sorgen, dass ein Krieg mich aus meiner Heimat vertreibt.
Ich darf dankbar sein, aber dafür muss ich meinen Blick anders fokussieren.
Vielleicht hören die schlechten Gefühle wegen des Fahrraddiebstahls dann nicht sofort auf, aber es hilft ja auch nichts, wenn ich mich immer weiter in Ärger und Wut hineinsteigere.

Das ist auch mein Vorschlag für Sie: Wagen Sie den Wechsel der Perspektive, fort vom Ärger und hin auf das, was Sie dankbar macht. Das kann für Sie unter den Bedingungen der Haft schwieriger sein als für mich – aber es zu versuchen ist allemal besser, als sich in schlechter Laune einzurichten.
Der Weg ist frei.
Wildau, 2019.
Und ähnlich ist es mit der Vergebung. Mit der materiellen, von der im Gleichnis die Rede ist, ebenso wie mit der moralischen.
Gott ist uns gegenüber vergebungsbereit. Zu vergeben ist fast schon eine Art Eigenschaft Gottes.
Wir sehen es in Jesu Geschichte: Obwohl die Schuld des Knechtes so riesig ist, wird ihm auf sein Bitten hin vergeben. So ist Gott, will Jesus damit sagen.
Bitte ihn um Vergebung und vergib selbst, dann wird es gut. Es ist das biblische Prinzip, dass wir uns in unserem Handeln an Gott und seinen Eigenschaften orientieren sollen.
So wie wir ja auch im Vaterunser beten: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." (Mt 6,12)
Beides gehört zusammen.

Voraussetzung ist natürlich, dass wir, also Sie und ich und der Papst und jeder Mensch, dass wir uns (erstens) unsere Fehler eingestehen. Unseren Neid, unseren Ärger, unsere Rachsucht, unsere Gier und so fort.
Wenn wir es dann (zweitens) wagen, uns mit diesen Fehlern vor Gott hin zu stellen und ihn im Vertrauen auf seine Vergebungsbereitschaft um Vergebung zu bitten, werden wir wirkliche Erleichterung spüren können. Das können wir aber nicht, wenn wir so tun, als wäre doch alles gar nicht so schlimm.
Dann wird (drittens) dieses Bewusstsein, dass Gott uns vergibt, uns selbst zu fröhlichen Vergebern machen. Wir werden gern vergeben können.

Probieren Sie es aus: Wenn Sie es genießen können, großzügig zu sein, wenn Sie gern vergeben können, dann wird es Ihnen selbst besser gehen – und denen, die um Sie herum sind.
Dankbar sein, großzügig sein, vergebungsbereit sein – das ist es, was Gott von uns will. Das ist es, was er uns in Jesus vorgelebt hat. Das ist es, wozu er uns immer wieder einlädt.

Manchmal braucht es etwas Anlauf.
Aber es klappt: Im Gefängnis oder draußen. Mit Fahrrad oder ohne.

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