Mittwoch, 2. September 2020

Ganz großes Theater. "Jesus kommt" von Nora Gomringer

Vor wichtigen Gesprächen bügle ich meistens noch ein Hemd. Auch rasiere ich mich. Versuche, einen guten Eindruck zu machen aus lauter Furcht, vielleicht nicht gut dazustehen.

Ähnliches schreibt die Lyrikerin Nora Gomringer in folgendem Gedicht1:


Jesus kommt
Blick unter die Oberfläche inklusive.
Holzdorf bei Weimar, 2020.

Wir räumen auf,
kehren unter den Teppich,
stellen uns gerade hin
mit geschnittenen Haaren,
ziehen ein Kleid an,
auch die ehrlichen Jungs
sagen artig Danke und Bitte.
Jesus, der schaut.
So kennt der uns gar nicht.
Fragt, ob er sich in der Tür geirrt...
Und ich sag;
Man wird doch
den einen Abend
noch höflich sein dürfen.


Ich finde das wunderbar eingefangen.
Die großen Lügen, die gern als Wirklichkeit dastehen wollen. Die bockige Antwort, wenn man vor lauter Schauspielerei unkenntlich geworden ist.
Und das, obwohl Jesus den Sprechenden augenscheinlich kein Unbekannter ist.
Gerade sie müssten doch wissen, dass es ihm nicht um den Schein geht, sondern um das Herz.

Aber trotzdem – und dieses Bedürfnis kenne ich nur zu gut – immer wieder der Versuch, Gott lieber etwas vorzuspielen als zu sich selbst zu stehen.


1   N. Gomringer, Gottesanbieterin. Dresden und Leipzig, 2020, 86.

1 Kommentar:

  1. Hier gibt es das Gedicht von ihr gelesen:
    https://www.ndr.de/kultur/Glaenzende-Lesung-von-Nora-Gomringer-Gottesanbieterin,gomringer114.html

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