Freitag, 29. Oktober 2021

Ich will meiner Sehnsucht folgen. Predigt am Anfang

„Ich will meiner Sehnsucht folgen“ – so haben wir diesen Gottesdienst überschrieben.

Doch wem oder was folge ich eigentlich, wenn ich meiner Sehnsucht folge? Ist das Thema nicht viel zu wenig religiös und dafür sehr selbstbezogen und egoistisch? Und überhaupt – machen das nicht sowieso alle, ihrer Sehnsucht folgen?

Die einen sagen: Wer seiner Sehnsucht nachgeht, macht einfach das, was ihm am Herzen liegt und wonach ihm ist. Jeder und jede weiß schon was gut für ihn und sie ist. Wer das nicht tut, weil er oder sie lieber Karriereerwägungen folgt oder äußerem Druck (zum Beispiel aus der Familie) nachgibt oder wer sich an Social-Media-Vorbildern orientiert, die ihm nicht entsprechen, der ist dann eben selbst schuld. Und findet sich letztlich nicht mehr im eigenen Leben wieder, sondern lebt die Vorstellungen anderer. Fremdbestimmt, nicht selbst entschieden.

Andere meinen: Es ist dir doch gesagt, was du zu tun, zu denken und zu glauben hast! Die Bibel, die Kirche, die Tradition der spirituellen Meister nehmen dich an die Hand. Deine Sehnsucht kannst du stecken lassen, denn der Weg ist bereits gebahnt! Geh ihn und alles wird gut.

Halb im Blick.
Berliner Dom hinter Humboldtforum, 2021.
Und trotz dieser ganzen Argumente aus verschiedenen Richtungen heißt das Thema dieses Gottesdienstes „Ich will meiner Sehnsucht folgen“.

Es gibt also vielleicht doch gute Gründe für dieses Thema!


Als Erstes ist es wichtig festzuhalten, was Sehnsucht ist – und was nicht. Man kann sie definieren als ein intensives inneres Verlangen, so wie es Liebende spüren, die beieinander sein wollen. Alles in mir zieht mich dorthin, wo das Ziel meiner Sehnsucht ist.

Damit ist es mehr als ein Wunsch, der in mir aufkommt und auch wieder verschwindet. Meinen akuten Hunger auf einen Döner zum Beispiel mit Sehnsucht zu bezeichnen, würde wohl an der gemeinten Sache vorbeigehen.

Ähnlich ist Sehnsucht auch keine Hoffnung, dafür ist die Sehnsucht zu emotional. Wenn jemand den Weltfrieden erhofft, dann kann das einen emotionalen Anker in mir haben, aber es ist eher eine Kopfsache.

Auch wenn es um die Erinnerung an einen wunderbaren Urlaub (vielleicht in Italien, wie bei mir) geht, dann ist es wohl eher eine Schwärmerei, wenn ich sage, dass ich mich nach der Toskana sehne.

Sehnsucht geht tiefer. Eine existenzielle Suche könnte man sie wohl nennen. Sie kann konkret sein, wie die Sehnsucht nach einem bestimmten Menschen oder sie ist allgemeiner, wie die Sehnsucht nach Zugehörigkeit oder nach dem Gefühl von Freiheit.


Als Zweites muss ich ja erst einmal wissen, was es wirklich ist, was ich tief in meinem Innersten ersehne. Das herauszubekommen ist schwerer als es auf den ersten Blick aussieht. Die Sorgen des Alltags, Prüfungsstress und viele kleine Entscheidungen bestimmen und blockieren uns und lassen uns oftmals gar nicht zum Kern kommen. Vielleicht haben einige von euch sich am Anfang des Studiums (oder besser noch bei der Studienwahl schon) überlegt, in welche Richtung euer Leben euch mal führen soll. Das Studienfach ist dabei nicht die einzige, aber auch nicht die unwichtigste Frage.

Vielleicht habt ihr dabei auch in euch hineingehört – Was suche ich? Was ist mir wichtig? Welche Nöte gehen mir besonders nahe? Wie will ich einmal auf mein Leben zurückblicken? Was bewegt mich, wenn ich Nachrichten sehe (und was nicht)? Was bewegt sich in mir, wenn ich an Familie denke – oder an Freunde, an Reisen?

Wir können das hier nicht im Einzelnen durchgehen, aber das sind durchaus relevante Fragen, die uns auf die Spur unserer Sehnsucht führen können.

Ich kann vielleicht an meiner Biographie deutlich machen, wie ich in mich hineingehört habe – schließlich bin ich heute zum ersten Mal dabei und kann mich auch etwas vorstellen. Nach dem Abitur war ich auf der Suche, was aus meinem Leben werden soll. Ich habe auch intensiv philosophische Themen gewälzt, nach Gott gefragt und überlegt, ob aus der Gottesfrage etwas werden soll, dass mit meiner Zukunft zu tun hat. Also stand die Frage im Raum, ob ich Theologie studieren soll und wenn ja mit welchem Ziel. Ich machte einen Freiwilligendienst in Lwiw in der Ukraine und merkte dabei, dass ich es ganz machen will – also (in der katholischen Kirche üblich) Priester werden möchte. Es folgten fünf Jahre Priesterseminar mit Höhen und Tiefen. Aber ich habe mehr und mehr gespürt, dass das nicht mein Lebensweg sein kann, allein zu leben.

Nicht aufgeben, wenn es komisch aussieht!
Frankfurt (Oder), 2021.

Nächster Versuch also: eine Ordensgemeinschaft, also die Verbindung von Ausrichtung auf Gott und Leben mit anderen. Die Wahl fiel mir leicht – ich ging zu den Jesuiten. Eine tolle Zeit war das: Sich selbst kennenlernen, inspirierende Mitbrüder treffen, Zeit für Gebet und Exerzitien, viele Orte in Deutschland und Europa sehen, aber auch Menschen am Rande der Gesellschaft begegnen. Einige Zeit dachte ich überzeugt „Jetzt habe ich meinen Platz gefunden.“ Ich bin angekommen am Ziel meiner Sehnsucht. Aber dann stünde ich jetzt nicht hier – mit einem Ring am Finger.
Nein – meine Sehnsucht nach Gemeinschaft konkretisierte sich noch weiter. Und der Verzicht auf Sexualität, auf eine Partnerin, auf eine eigene Familie fiel mir immer schwerer. Dieser Preis wurde mir nach und nach zu hoch.

Ich will nicht in die Einzelheiten gehen, sondern in Kürze sagen: ich traf meine jetzige Frau (die ich schon länger kannte) und trat nach viereinhalb Jahren im Orden wieder aus.

Warum erzähle ich das alles?

Zum einen, weil ich sagen möchte, dass das Hören auf die eigene Sehnsucht nicht so leicht ist – ich habe (platt gesagt) zehn Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass die Sehnsucht nach Gott und die Sehnsucht nach einer Frau und einer Familie bei mir zusammengehören. Bei anderen mag das anders sein, aber für mich und mein Leben gehört das zusammen.

Das zu verstehen und meine Sehnsüchte in Kontakt miteinander zu bringen war für mich ein langer Weg.

Das andere, was mir dabei wichtig ist, lässt sich kurz sagen: Hab keine Angst, wenn der erste Weg nicht der richtige ist. Wenn du deine wirkliche tiefe Sehnsucht erkennst und ihr folgst, kommst du nach vielen Umwegen auch an.

Religiös gesagt: Gott sucht einen Weg zu dir und er will, dass dein Leben gelingt. Und dafür spricht er mit dir.


Damit komme ich zu einem dritten Punkt: Die oben angesprochene Tiefe der Sehnsucht ist eine religiöse Dimension – ich glaube, dass Gott durch unsere Sehnsucht zu uns sprechen will. Dass er sie in uns hineingelegt hat, genauso wie unsere Talente und unsere emotionale Aufmerksamkeit für manche Nöte.

Gott finden wir in der Tiefe – nicht nur außerhalb unserer selbst, in der Bibel oder in liturgischen Praktiken, sondern wir finden ihn und seine Stimme vor allem in uns. Oftmals in Verbindung miteinander – wenn ich ein altes Kirchenlied singe oder ein Bibelwort höre, kann es sein, dass etwas in mir in Schwingung kommt und ich berührt bin an einem Zipfel meiner Sehnsucht.

Und dann kann ich meine Sehnsucht erspüren und ganz in Kontakt kommen mit mir selbst.


Als Viertes kann das ganz explizit religiös werden – das muss nicht so sein, aber es ist möglich. So wie ich es aus meinem Leben berichtet habe. Oder wie Thomas Philipp, bis vor ein paar Jahren Hochschulseelsorger in Bern, in einem Buch schreibt:

Ein Mensch kann zu Jesus Zugang finden genau in dem Maß in dem er in Kontakt mit seiner Sehnsucht lebt.“ Ein starker Satz, finde ich – der Kontakt mit mir und der Kontakt mit Jesus gehören zusammen. Und er legt noch nach: „Nur wer nach mehr fragt als nach objektiver Information, hat die Chance, einen Jemand und nicht nur lauter Etwas zu finden.1

Großer Dachboden für religiöse Fragen.
KLoster Neuzelle, 2021.
Die Bewegung ist die gleiche wie im Studium – es ist das Ausgreifen auf „mehr“ als das, was ich schon kann und weiß und kenne. Während es dort im Studium um mehr Kenntnisse und mehr Wissen (oder pädagogisch formuliert mehr Kompetenzen) geht, geht es im Glauben um ein Mehr an Begegnung.

Im Kern geht es der christlichen Religion genau darum – um die Begegnung mit Gott.


Und ein letzter Gedanke, zur Lesung (Phil 3,10-14):

Wenn man Paulus in diesem Brief an die Gemeinde in Philippi hört, dann hat dieser Paulus eine ganz klare Ausrichtung in seinem Leben – eine beneidenswerte Eindeutigkeit, die wahrscheinlich die wenigsten von uns so haben. Er hat eine existenzielle Erfahrung mit diesem Gott gemacht und ist sich seiner Sache sicher – aber gleichzeitig weiß er: Ich bin noch nicht fertig.

Das wäre wahrscheinlich ein weiterer Punkt, der sich festzuhalten lohnt: es gibt ein klares Ziel, aber diese Klarheit mündet nicht in Arroganz, sondern in die Erkenntnis, dass da noch einiges vor mir liegt. Es ist eine Bescheidenheit angesichts der eigenen aktuellen Position.


Komm deiner Sehnsucht auf die Spur. Unterscheide sie gut von allem anderen, was du so willst und hoffst und wonach du vielleicht süchtig bist und so fort.

Folge dieser Sehnsucht – und vertrau darauf, dass du dir dort begegnest – und dass Gott dir durch deine Sehnsucht begegnet.

Und wenn du merkst, dass du nicht gleich beim ersten Versuch den großen Wurf landest, dann wirst du dich auch nicht aufplustern und vor andern brüsten, sondern bescheiden sein.

Denn es geht weiter, immer deiner Sehnsucht nach...

 

1   T. Philipp, Wie heute glauben? Christsein im 21. Jahrhundert. Freiburg i.Br. 2010, 82.

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