Samstag, 17. Mai 2014

"Ich bin die Straße"

Christian Herwartz SJ übersetzt das berühmte Jesuswort aus dem Evangelium des heutigen Sonntags (Joh 14, 1-12) auf ganz eigene Weise. Wo Jesus in anderen Übersetzungen sagt "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben" (v 6) wird Jesus nun zur "Straße".
Fußgänger im Regen, Wedding, Berlin, 2014.
Mir wurde das sofort sehr verständlich im Blick auf die biblischen Begegnungen von Gottsuchern mit dem Gesuchten auf den wortwörtlichen Straßen der Welt.
Die Jünger auf der Straße nach Emmaus sind die bekanntesten (Lk 24,13-fin), auch den Paulus erreicht Gott auf der Straße nach Damaskus (Apg 9,3) und Philippus findet den den äthiopischen Frommen "auf der Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt" (Apg 8,26).

Die Straße scheint ein Ort zu sein, an dem Gott sich bevorzugter finden lässt. Auf der Straße, d.h. in meinem Alltag, in den Augenblicken des Unterwegsseins, im Aufbruch, im Nicht-Heimischen.
"Die Straßen schlängeln sich an vielen privatisierten Räumen in unserem Land vorbei. Manchmal sind sie der einzige Raum, der allen zugänglich ist. Hier begegnen wir allen, die unterwegs sind. Straßen sind Verbindungslinien zwischen verschiedenen Orten des Lebens. Neue Ziele werden aufgesucht."1

Die "Exerzitien auf der Straße", die in dem zitierten Buch angeleitet werden, stellen für mich ignatianische und christliche Spiritualität in Reinkultur dar.
Nicht zuerst auf einem Betschemel oder in klösterlicher Abgeschiedenheit, sondern mitten im Leben will sich Gott entdecken lassen. Das war meine Einsicht bei bisher leider noch viel zu kurz geübten Straßenexerzitien.

Für Christian Herwartz ist es das ignatianische "der eigenen Sehnsucht folgen", das den Ausschlag geben muss. Wer auf die Straße geht, setzt sich aus – sich selbst, Gott, den Blicken und dem Denken anderer Menschen. Wünsche und Bedürfnisse, aber auch Ängste und Abneigungen kommen hervor und dürfen auf ganz unbewertet da sein. Ihnen kann man sich auf der Straße stellen.

Pomnik Armii Poznan, Pfeil, Poznan, 2014.

Mitten in der Aufmerksamkeit für die Welt, dort, wo sich eine Person ganz persönlich angesprochen fühlt, kann sie nun die Erfahrung Gottes machen. Klassisches Beispiel dafür ist das Erlebnis des Mose am brennenden Dornbusch (Ex 3). Er wird neugierig auf dieses Brennen, wie wir es auch für ungewohnte oder einfach nur die Aufmerksamkeit anrührende Situationen auf der Straße werden können.

Und dann hört Mose: "Leg deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden." (Ex 3,5). "Diesen Rat bekommen auch die ExerzitienteilnehmerInnen mit auf den Weg: Wenn ihr an einen Ort kommt, wo ihr spürt, dass euch etwas gesagt werden soll, dann sucht eine günstige Stelle zum Verweilen und stellt euch ganz in die Realität dieses Ortes und eurer Geschichte. Lasst die eingeübte Distanz an diesem euch vielleicht fremden Ort fallen, legt die distanziertende Schuhsohle beiseite! Zieht die Schuhe eures Herzens aus!"2
Fußgänger, Charlottenburg, Berlin, 2014.

Doch welche Schuhe sind es, die den Bodenkontakt, den Kontakt mit Gott in der Straße verhindern? "Mal sind es hochhakige Schuhe, mit denen ich auf das Leben herabsehe. Ein andermal sind es Turnschuhe, mit denen ich mich herausfordernden Situationen schnell entziehe. Auch Schuhe, die zur Waffe gegen andere werden können, darf ich ablegen. Ein anderer will sich mit bunten, auffälligen Schuhen vor anderen Menschen brüsten. Auch die darf er ablegen."3

Offen die eigenen Vorurteile riskierend, aufmerksam auf innere Widerstände hörend und doch neugierig dran bleibend – eine solche Haltung der hörenden "Anbetung" Gottes mitten in der Welt findet immer Orte, an denen das Herz angesprochen wird und Gott sein Liebesfeuer schenken kann. 

Kurz: "Wir suchen keine Orte der Ablenkung oder des Vergessens, sondern jene, die außerhalb des Machens liegen und an denen die neue Freude brennen darf."4 




1   C. Herwartz, Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße. Würzburg 2011, 29.
2   Ebd., 35f.
3   Ebd., 36f.
4   Ebd., 55.