Dienstag, 6. Mai 2014

Religionsunterricht zwischen allen Straßengräben

Ich lebe in Berlin. Von allen anderen Vorzügen und Nachteilen einmal abgesehen ist Berlin ein Bundesland, in dem der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach, sondern eine freiwillige Zusatzveranstaltung jener Schülerinnen und Schüler ist, die diese wählen; eine Sache, die in Verantwortung der Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften an den Schulen stattfindet.
Licht und Schatten, Berlin-Mitte, 2014.

In dieser Situation steht der Religionsunterricht. Nach den Diskussionen um die Einführung eines Wahlpflichtfaches Religion anstelle des allgemeinverbindlichen Ethikunterrichts in den Jahren 2007-2009 ist dieses Thema politisch vorerst vom Tisch. Im Anschluss daran muss um die Legitimität des Religionsunterrichts mindestens hier (und sicher auch andernorts) neu gerungen werden.1

Während des Volksentscheids wurde argumentiert, dass alle Kinder gemeinsam etwas lernen sollten, anstatt dass verschiedene Religionsgemeinschaften eine bekenntnisbestimmte Perspektive auf ethische und religiöse Themen bieten, und sich dabei größtenteils an das eigene Klientel richten. Zudem war die Bevorzugung der großen christlichen Konfessionen ein Kritikpunkt im Hintergrund, der sich wohl aus dem Verdacht speiste, hier würde staatlicherseits organisiert eine bestimmte Religion bevorzugt oder sogar beworben.

Angesichts der Tatsache, dass dies aus dem historischen Gewordensein in Einzelfällen wohl tatsächlich so sein kann, möchte ich nun einige Gedanken aufschreiben, die mir hierzu wichtig sind.

Zunächst: ich halte die verfassungsgegebene Stellung des Religionsunterrichts nach Art. 7 GG für sinnvoll, aber auch für potentiell gefährlich. Die gewissensbildende und weltbildfördernde Kraft der Religionen soll Menschen Perspektiven bieten, auch im Schulalter. Aber die Nähe der christlichen Kirchen zu den staatlichen Institutionen schaffen zugleich eine Abhängigkeit und tendenzielle Systemkonformität, die belastend sein kann, wenn es auch nicht immer so weit gehen muss wie im Deutschen Kaiserreich oder zuteilen im Dritten Reich. (Entweltlichung lässt grüßen...)

Wichtig ist mir, aus der Verdachtshaltung herauszukommen, dass beim Religionsunterricht Indoktrination betrieben werden würde. Gerade bei Fächern, die das einzelne Individuum mit manchen Inhalten zuinnerst angehen, kann man die unhintergehbare Perspektivität menschlichen Erkennens doch nicht verdammen, sondern muss sie sich vielmehr zunutze machen.
Gebäude, Rheinsberg, Brandenburg, 2014.
Niemand ist doch so naiv zu glauben, dass die Ethik- oder Lebenskundelehrkräfte absichtslos und im Sinne einer „objektiven Humanität“ unterrichten würden. Natürlich fließt eigenes Erleben, eigenes Fragen und Überzeugtsein immer in das jeweilige Unterrichten mit ein. Der aufgebauschte Ideologieverdacht gegenüber dem bekenntnisgebundenen Religionsunterricht müsste sich darum eher an der Lehrkraft entzünden, nicht aber am Unterrichtsgegenstand.

Dennoch stimmt: Religion hat mit Wahrheit zu tun, Religionsunterricht dementsprechend mit dem Heranführen an diese Frage. Es ist gut, dass der Staat die Wahrheitsfrage in der Schule (theoretisch) nicht beantworten will – aber sie als unbeantwortbar oder irrelevant abzutun, wird ihrer Bedeutung nicht gerecht und beantwortet sie vielmehr schon in einer Weise, die Anmaßung ist.
Dagegen mag die Reduktion aller Fragen auf Nützlichkeit und persönliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zwar anspruchsbegrenzend sein, aber es geht in Bildung und Entwicklung eben auch um das Übernützliche und Zweckfreie, nicht um der sofortigen Verwertung Gesuchte.

Religionsunterricht im schulischen Kontext halte ich deshalb für eine ambivalente Sache. Hier darf keine religiöse Vereinnahmung betrieben werden, sondern die Schülerinnen und Schüler sollen mit Lebensfragen und verschiedenen, auch religiösen Antworten konfrontiert werden, sich kritisch dazu verhalten und zu einer verantworteten Entscheidung gelangen können.
Dies ist nur durch die Förderung einer kritischen Perspektive leistbar, die nach dem existenziellen Engagement mindestens fragt. Denn konfessioneller Religionsunterricht ist etwas anderes und mehr als neutrale Religionskunde, die nur Daten und Fakten bieten will. 
 
Auch im Religionsunterricht wird keine Entscheidung forciert. Es geht nicht um Katechese und es kann um der staatskirchenrechtlichen Redlichkeit willen nicht als Primärziel um Wachstum im Glauben gehen.
Aber der Religionsunterricht soll praktische Urteilsfähigkeit auch im persönlichen Bekenntnis fördern und kann darum nicht in der Weise neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit „etsi Deut non daretur“ (als ob es Gott nicht gebe) angeboten werden. Nähme er diesen gesellschaftlich weitgehend erwarteten Gestus an, würde er sich vollständig verleugnen, denn er hätte die Frage nach Gott damit schon abgetan und auf diese Weise beantwortet.
Dadurch kommt es zu einem Paradox – eine äußerst persönliche Sachlage wie die Frage nach Religion und ihren existenziell angehenden Ansprüchen soll in einem möglichst offenen Kontext präsentiert werden...

Wortgewirr, Christlicher Garten, Gärten der Welt, Marzahn, Berlin, 2014.

Dann einen Fragehorizont zu öffnen und zeugnishaft eine eigene Antwortmöglichkeit anzubieten ohne dadurch andere nicht glaubensgemäße Antworten von vornherein auszuschließen – das ist die enorme Herausforderung der Lehrkräfte.



1   Dazu gab es in einem Sonderheft der Herder-Korrespondenz aus dem letzten Jahr interessante Einsichten. Vgl. in HK Spezial „Glauben lehren? Zur Zukunft des Religionsunterrichts“z.B. A. Verhülsdonk, Glaube ist mehr als ein Kulturgut. Zur Situation des katholischen Religionsunterrichts in Deutschland, 2-6; F. Wittreck, Ein doppelter Reformdiskurs. Verfassungsrechtliche Perspektiven, 6-10.