Ich lebe in Berlin. Von allen anderen
Vorzügen und Nachteilen einmal abgesehen ist Berlin ein Bundesland,
in dem der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach, sondern
eine freiwillige Zusatzveranstaltung jener Schülerinnen und Schüler
ist, die diese wählen; eine Sache, die in Verantwortung der Kirchen
bzw. Religionsgemeinschaften an den Schulen stattfindet.
In dieser Situation steht der
Religionsunterricht. Nach den Diskussionen um die Einführung eines
Wahlpflichtfaches Religion anstelle des allgemeinverbindlichen
Ethikunterrichts in den Jahren 2007-2009 ist dieses Thema politisch
vorerst vom Tisch. Im Anschluss daran muss um die Legitimität des
Religionsunterrichts mindestens hier (und sicher auch andernorts) neu
gerungen werden.1
Während des Volksentscheids wurde
argumentiert, dass alle Kinder gemeinsam etwas lernen sollten,
anstatt dass verschiedene Religionsgemeinschaften eine
bekenntnisbestimmte Perspektive auf ethische und religiöse Themen
bieten, und sich dabei größtenteils an das eigene Klientel richten.
Zudem war die Bevorzugung der großen christlichen Konfessionen ein
Kritikpunkt im Hintergrund, der sich wohl aus dem Verdacht speiste,
hier würde staatlicherseits organisiert eine bestimmte Religion
bevorzugt oder sogar beworben.
Angesichts der Tatsache, dass dies aus
dem historischen Gewordensein in Einzelfällen wohl tatsächlich so
sein kann, möchte ich nun einige Gedanken aufschreiben, die mir
hierzu wichtig sind.
Zunächst: ich halte die
verfassungsgegebene Stellung des Religionsunterrichts nach Art. 7 GG
für sinnvoll, aber auch für potentiell gefährlich. Die
gewissensbildende und weltbildfördernde Kraft der Religionen soll
Menschen Perspektiven bieten, auch im Schulalter. Aber die Nähe der
christlichen Kirchen zu den staatlichen Institutionen schaffen
zugleich eine Abhängigkeit und tendenzielle Systemkonformität, die
belastend sein kann, wenn es auch nicht immer so weit gehen muss wie
im Deutschen Kaiserreich oder zuteilen im Dritten Reich.
(Entweltlichung lässt grüßen...)
Wichtig ist mir, aus der
Verdachtshaltung herauszukommen, dass beim Religionsunterricht
Indoktrination betrieben werden würde. Gerade bei Fächern, die das
einzelne Individuum mit manchen Inhalten zuinnerst angehen, kann man
die unhintergehbare Perspektivität menschlichen Erkennens doch nicht
verdammen, sondern muss sie sich vielmehr zunutze machen.
Gebäude, Rheinsberg, Brandenburg, 2014. |
Dennoch stimmt: Religion hat mit
Wahrheit zu tun, Religionsunterricht dementsprechend mit dem
Heranführen an diese Frage. Es ist gut, dass der Staat die
Wahrheitsfrage in der Schule (theoretisch) nicht beantworten will –
aber sie als unbeantwortbar oder irrelevant abzutun, wird ihrer
Bedeutung nicht gerecht und beantwortet sie vielmehr schon in einer
Weise, die Anmaßung ist.
Dagegen mag
die Reduktion aller Fragen auf Nützlichkeit und persönliche
Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zwar anspruchsbegrenzend
sein, aber es geht in Bildung
und Entwicklung eben auch um das Übernützliche und Zweckfreie,
nicht um der sofortigen Verwertung Gesuchte.
Religionsunterricht im schulischen
Kontext halte ich deshalb für eine ambivalente Sache. Hier darf
keine religiöse Vereinnahmung betrieben werden, sondern die
Schülerinnen und Schüler sollen mit Lebensfragen und verschiedenen,
auch religiösen Antworten konfrontiert werden, sich kritisch dazu
verhalten und zu einer verantworteten Entscheidung gelangen können.
Dies
ist nur durch die Förderung einer kritischen Perspektive leistbar,
die nach dem existenziellen Engagement mindestens fragt. Denn
konfessioneller Religionsunterricht ist etwas anderes und mehr als
neutrale Religionskunde, die nur Daten und Fakten bieten will.
Auch
im Religionsunterricht wird keine Entscheidung forciert. Es geht
nicht um Katechese und es kann um der staatskirchenrechtlichen
Redlichkeit willen nicht als Primärziel um Wachstum im Glauben
gehen.
Aber
der Religionsunterricht soll praktische Urteilsfähigkeit auch im
persönlichen Bekenntnis fördern und kann darum nicht in der Weise
neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit „etsi Deut non daretur“ (als
ob es Gott nicht gebe) angeboten werden. Nähme er diesen
gesellschaftlich weitgehend erwarteten Gestus an, würde er sich
vollständig verleugnen, denn er hätte die Frage nach Gott damit
schon abgetan und auf diese Weise beantwortet.
Dadurch
kommt es zu einem Paradox – eine äußerst persönliche Sachlage
wie die Frage nach Religion und ihren existenziell angehenden
Ansprüchen soll in einem möglichst offenen Kontext präsentiert
werden...
Dann
einen Fragehorizont zu öffnen und zeugnishaft eine eigene
Antwortmöglichkeit anzubieten ohne dadurch andere nicht
glaubensgemäße Antworten von vornherein auszuschließen – das ist
die enorme Herausforderung der Lehrkräfte.
1 Dazu
gab es in einem Sonderheft der Herder-Korrespondenz aus dem letzten
Jahr interessante Einsichten. Vgl. in HK Spezial „Glauben lehren?
Zur Zukunft des Religionsunterrichts“z.B. A. Verhülsdonk, Glaube
ist mehr als ein Kulturgut. Zur Situation des katholischen
Religionsunterrichts in Deutschland, 2-6; F. Wittreck, Ein doppelter
Reformdiskurs. Verfassungsrechtliche Perspektiven, 6-10.