Dienstag, 20. Mai 2014

Vom Engel zum Racheengel - Gedanken zu Lars von Triers "Dogville"

Wenn die schlechtesten Seiten an Menschen wachgerufen werden, dann muss die Ursache dafür nicht unbedingt selbst schlecht sein.
So gesehen im Film „Dogville“ von Lars von Trier, in dem die junge Frau Grace sich in ein fiktives Dorf in den Rocky Mountains flüchtet und nach einigem Zögern der Einwohner aufgenommen wird.
Zunächst werden ihre Hilfsangebote, die ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellen sollen, zurückgewiesen, weil doch keine Hilfe nötig sei. Doch mit Hilfe des verkappten Schriftstellers Tom gelingt ihr das Ankommen. Nach und nach erkennt die kleine Gemeinschaft allerdings ihre Möglichkeiten der Machtausübung und Kontrolle über Grace. Wach werden nicht Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft, sondern Angst, Misstrauen und Gewalt.

Eisfläche, Spree, Berlin-Mitte, 2014.
Formal äußerst reduziert und auf Kulissen weitgehend verzichtend spielt das Ensemble auf einer Plattform, auf der in Kreidestrichen umrisshaft die häuslichen Begrenzungen angedeutet sind. Die so entstehende Transparenz und Offenheit sind jedoch nicht positiv besetzt, sondern werden zu Bedingungen der Gewalt.

Der experimentierfreudige Regisseur, der auch das Drehbuch verantwortete, deutet in der DVD-Ausstattung des Films das Kommen der mit sprechendem Namen ausgestatteten Grace (Gnade, Anmut) als Sich-Schenken einer Person mit allen Ambivalenzen:
Wenn man sich anderen als Geschenk präsentiert, dann ist das mit Gefahren verbunden. Die Macht, die Menschen dadurch über einen Einzelnen bekommen, korrumpiert sie. Wenn man sich selbst verschenkt, kann das niemals funktionieren. Es muss Grenzen geben.

Der Vergleich mit der Hingabe Jesu bis in den Tod liegt nahe und ist in manchen Kommentaren auch gezogen worden.  Die christlichen Implikationen liegen gleichwohl nicht klar auf der Hand.
Als zum Finale der Vater der flüchtigen Grace mit Revolvermännern angerauscht kommt, erinnert wenig an den Vatergott der Bibel.
Trotzdem ist die engelsgleiche Grace ein prophetischer Prüfstein für die Dorfgesellschaft. Sie zeigt, so Katja Nikodemus in der ZEIT, wie hündisch dieses Dorf Dogville tatsächlich ist.

Mit der Ankunft des vom Dorf gerufenen Vaters dreht sich schließlich die Passion der Unglücklichen. Die inzwischen von allen verratene und verlassene Grace, die erst ausgenutzt und missbraucht und dann sogar wie ein Tier an die Kette gelegt wurde, soll nun ausgeliefert werden. Doch die DorfbewohnerInnen erwarten diesen herbeigewünschten Tag des Gerichts mit Bange. Ihre Hoffnung – eine Belohnung für den Verrat.

Spuren auf Altkleidertonne, Wedding,
Berlin, 2014.
Nur dass dann alles ganz anders kommt – ähnlich dem biblischen Sohn, der in die Arme des Vaters zurückkehrt, ändert Grace ihre Meinung beim Gespräch im geschlossenen Auto, übrigens dem einzigen wirklich intim intransparenten Raum (Vorhänge vor den Scheiben!) des ganzen Films.

Ihre Haltung der Demut und ihr Sich-Ausliefern empfindet der Vater als arrogant. Wer verzeihend über allem steht, kann auch als sich über alle erhebend betrachtet werden. Grace erkennt, wie bösartig Dogville wirklich ist, erkennt, dass alle moralischen Standards der DorfbewohnerInnen über Bord gingen.
Aus dem Engel wird ein Racheengel – Grace entschließt sich, nicht mehr verständnisvoll mit denen zu sein, die sie geknechtet haben. 
Ihre Wendung erinnert nun doch an das Weltgericht in Mt 25,31-46: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (v40)

Nur dass es hier tatsächlich immer Grace selbst war, der all das angetan wurde. Ihre Anwesenheit hat einen Raum der Gnade geöffnet, in dem sie sich schutzlos und vertrauensvoll auslieferte. Nun kehrt sich jede Tat gegen ihre Verursacher – das alttestamentliche Tallionsprinzip (vgl. Ex 21,23-25) wird in überzogener Härte vorgeführt. Dogville hat seine Chance gut zu sein nicht genutzt.

Unbefriedigend – und damit sicher sehr realistisch.