Wenn die schlechtesten Seiten an
Menschen wachgerufen werden, dann muss die Ursache dafür nicht
unbedingt selbst schlecht sein.
So gesehen im Film „Dogville“ von
Lars von Trier, in dem die junge Frau Grace sich in ein fiktives Dorf
in den Rocky Mountains flüchtet und nach einigem Zögern der
Einwohner aufgenommen wird.
Zunächst werden ihre Hilfsangebote, die
ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellen sollen,
zurückgewiesen, weil doch keine Hilfe nötig sei. Doch mit Hilfe des
verkappten Schriftstellers Tom gelingt ihr das Ankommen. Nach und
nach erkennt die kleine Gemeinschaft allerdings ihre Möglichkeiten
der Machtausübung und Kontrolle über Grace. Wach werden nicht
Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft, sondern Angst, Misstrauen und
Gewalt.Eisfläche, Spree, Berlin-Mitte, 2014. |
Formal äußerst reduziert und auf
Kulissen weitgehend verzichtend spielt das Ensemble auf einer
Plattform, auf der in Kreidestrichen umrisshaft die häuslichen
Begrenzungen angedeutet sind. Die so entstehende Transparenz und
Offenheit sind jedoch nicht positiv besetzt, sondern werden zu
Bedingungen der Gewalt.
Der experimentierfreudige Regisseur,
der auch das Drehbuch verantwortete, deutet in der DVD-Ausstattung
des Films das Kommen der mit sprechendem Namen ausgestatteten Grace
(Gnade, Anmut) als Sich-Schenken einer Person mit allen Ambivalenzen:
„Wenn man sich anderen als
Geschenk präsentiert, dann ist das mit Gefahren verbunden. Die
Macht, die Menschen dadurch über einen Einzelnen bekommen,
korrumpiert sie. Wenn man sich selbst verschenkt, kann das niemals
funktionieren. Es muss Grenzen geben.“
Der Vergleich mit der Hingabe Jesu bis
in den Tod liegt nahe und ist in manchen Kommentaren auch gezogen worden.
Die christlichen Implikationen liegen gleichwohl nicht klar auf der
Hand.
Als zum Finale der Vater der flüchtigen
Grace mit Revolvermännern angerauscht kommt, erinnert wenig an den
Vatergott der Bibel.
Trotzdem ist die engelsgleiche Grace
ein prophetischer Prüfstein für die Dorfgesellschaft. Sie zeigt, so
Katja Nikodemus in der ZEIT,
wie hündisch dieses Dorf Dogville tatsächlich ist.
Mit der Ankunft des vom Dorf gerufenen
Vaters dreht sich schließlich die Passion der Unglücklichen. Die
inzwischen von allen verratene und verlassene Grace, die erst
ausgenutzt und missbraucht und dann sogar wie ein Tier an die Kette
gelegt wurde, soll nun ausgeliefert werden. Doch die
DorfbewohnerInnen erwarten diesen herbeigewünschten Tag des Gerichts
mit Bange. Ihre Hoffnung – eine Belohnung für den Verrat.
Spuren auf Altkleidertonne, Wedding, Berlin, 2014. |
Nur dass dann alles ganz anders kommt –
ähnlich dem biblischen Sohn, der in die Arme des Vaters zurückkehrt,
ändert Grace ihre Meinung beim Gespräch im geschlossenen Auto,
übrigens dem einzigen wirklich intim intransparenten Raum (Vorhänge
vor den Scheiben!) des ganzen Films.
Ihre Haltung der Demut und ihr
Sich-Ausliefern empfindet der Vater als arrogant. Wer verzeihend über
allem steht, kann auch als sich über alle erhebend betrachtet
werden. Grace erkennt, wie bösartig Dogville wirklich ist, erkennt,
dass alle moralischen Standards der DorfbewohnerInnen über Bord
gingen.
Aus dem Engel wird ein Racheengel –
Grace entschließt sich, nicht mehr verständnisvoll mit denen zu
sein, die sie geknechtet haben.
Ihre Wendung erinnert nun doch an das
Weltgericht in Mt 25,31-46: „Was ihr für einen meiner
geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (v40)
Nur dass es hier tatsächlich immer
Grace selbst war, der all das angetan wurde. Ihre Anwesenheit hat
einen Raum der Gnade geöffnet, in dem sie sich schutzlos
und vertrauensvoll auslieferte. Nun kehrt sich jede Tat gegen ihre Verursacher – das
alttestamentliche Tallionsprinzip (vgl. Ex 21,23-25) wird in
überzogener Härte vorgeführt. Dogville hat seine Chance gut zu
sein nicht genutzt.
Unbefriedigend – und damit sicher
sehr realistisch.