Donnerstag, 14. August 2014

Wovor knien wir?

Der Duden bringt es mit nüchternen Worten auf den physischen Kern: "eine Haltung einnehmen, bei der das Körpergewicht bei abgewinkelten Beinen auf einem oder beiden Knien ruht".1
Das kann durchaus schmerzhaft sein, wurde ja zuweilen auch als Strafe verwendet oder zur Verdemütigung – die kniende Haltung derer, die anschließend enthauptet werden sollten, spricht Bände.

Es gibt aber auch den inneren Wunsch zu knien. Nicht aus körperlichen Gründen, wie zum Beispiel aus Ermattung oder im Heulkrampf, sondern aus geistigen.
Denkmal der Helden des Ghettos, Warschau, 2013.
Diese müssen gar nicht zwangsläufig religiöser Natur sein, sondern können auch emotionale Ergriffenheit und das Gefühl von Hilflosigkeit zum Ausdruck bringen. Am bekanntesten ist wohl der spontane Kniefall Willy Brandts in Warschau, als er vor dem Denkmal für die Gefallenen des Ghetto-Aufstandes niedersinkt. Später wird er dies kommentieren: "Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt."2
Angesichts so vieler Toter keine Worte zu finden und vor diesem Zeugnis des Mordwahns die Knie vor den Opfern zu beugen stellt für mich eine Geste der Ehrfurcht vor dem Leben dar.

Biblisch findet sich das Knien in verschiedenen Formen: "Da ist zuerst die Prostratio – das Sich-zu-Boden-Strecken vor der überwältigenden Macht Gottes; da ist besonders im Neuen Testament das Zu-Füße-Fallen und endlich das Knien. Im einzelnen sind freilich auch sprachlich die drei Haltungen nicht immer deutlich voneinander getrennt. Sie können sich verbinden, ineinander übergehen."3
In erster Linie taucht das Knien / Niederwerfen im Neuen Testament auf als Bittgestus, vornehmlich wenn Menschen in großer Not etwas erflehen (vgl. Mt 15,25; Mk 7,25). Doch auch als Zeichen des Dankes (Lk 17,16) und der Ehrfurcht (Mt 14,33; Mt 17,6) wird es genannt. Auch Jesus selbst wirft sich im Garten Getsemani auf die Knie, um Gottes Beistand vor der Verhaftung zu erflehen (Mt 26,39).
Vor der als Retter erhofften Gestalt zu knien, um Dank oder Bitte, Erschrecken oder Ehrfurcht zum Ausdruck zu bringen, scheint den biblischen Autoren selbstverständlich. Es wird offensichtlich als eine angemessene Haltung angesichts der epiphanischen Erscheinung verstanden.

Graffito, Rixdorf, Berlin, 2014.
Der Theologe und Philosoph Romano Guardini hat in seiner Sammlung von Haltungen im christlichen Gottesdienst die Intention des Kniens so beschrieben: "man möchte seine Gestalt niedriger machen, damit sie nicht so anmaßend dastehe".4 Schließlich wird im körperlichen Gestus ein mentaler Akt vollzogen: das aktiv-bereite und bisweilen hoheitsvolle Stehen passt nicht zur Begegnung von Mensch und Gott. "Die Seele des Kniens aber ist, dass auch inwendig das Herz sich in tiefer Ehrfurcht vor Gott neige."5

Diese Anbetungsgesinnung und Betonung der eigenen Kleinheit, nicht nur Gott, sondern auch sich selbst gegenüber ist zutiefst gewöhnungsbedürftig. Als mündiger und aufgeklärter Mensch muss ich mich doch nicht vor irgendjemandem oder irgendetwas neigen. Der Mensch ist der Maßstab und Quelle individuellen Wertes, der nicht verlierbar ist und kein Kratzbuckeln vor Machthabern oder Gönnern braucht. Christlich: Hat Gott uns nicht aufgerichtet, so dass wir aufrecht erlöst vor ihm stehen können?

Wovor aber knien wir tatsächlich? Wovor rutschen wir, wenn nicht körperlich und wortwörtlich, dann mental auf den Knien voller Bitten, innerer Ergebung oder Erlösungshoffnung? Ist die soziale Anerkennung, das materielle Besitzen, der kurvige Körperbau nicht oft genug niederer Beweggrund "zum Niederknien" – und kommen im subtileren Niederwerfen vor zeitgeprägten (und oft genug durchaus wertvollen, aber eben nicht anbetungswürdigen) Werten der political correctness wie Transparenz, Toleranz, Nachhaltigkeit, Selbstbestimmung etc. nicht die gleichen Mechanismen zum Ausdruck?
Möglicherweise ist es jedoch
Wehen des Vorhangs, Rixdorf, Berlin, 2014.
auch harmloser, wenn die Freude über ein Neugeborenes Menschen auf die Knie bringt oder eine Liebeserklärung auf Knien am angmessensten scheint.

Hier zeigt sich nämlich eine Brücke. Das Christentum tradiert die vorgenannten Schriften über Jesus von Nazareth, den Heiler und Sündenvergeber, weil er sich kleingemacht hat. Er hat sich nach den Worten des Hymnus' im Philipperbrief (Phil 2,6-11) "entäußert" und "wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich". (v7) Weil er selbst bis zum Tod am Kreuz den Weg nach unten ging und sich aus Liebe für die Menschen hingegeben hat, ist auch mir nachvollziehbar, dass "alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen" (v10) vor ihm.6 Nicht vor irgendwem knien wir also, sondern vor dem, der uns alles geschenkt hat. Das Knien wird legitim vor dem unfassbaren Dunkel der bedingungslosen Liebe.

Davon zeugt und das zeigt die Eucharistiefeier, in der dieses Geschehen vergegenwärtigt wird.
Hier zeigen sie sich alle: die unschuldige Liebe, die Hingabe, das Versöhnen über jedes Maß hinaus, die unerwartbare Schenkung, die Heilung, das Entsetzen vor dem gewaltvollen Tod, die Hilflosigkeit, die emotionale Überwältigung, die wortlose Freude...

Guardini schließt seine Erörterungen zum liturgischen Knien darum passenderweise: "jedesmal wird es deiner Seele guttun."7


3   J. Ratzinger, Der Geist der Liturgie. Eine Einführung. 6. Aufl. Freiburg i.Br. 2002, 160.

4   R. Guardini, Von heiligen Zeichen. Leipzig 1952, 12.

5   Ebd.

6   Vgl. zu diesen Gedanken auch J. Ratzinger, a.a.O., 165f.


7   R. Guardini, a.a.O.