"Ich bin nichts. Nichts als
eine blasse Silhouette, an diesem Abend, auf der Terasse eines Cafés.
Ich wartete darauf, daß der Regen aufhörte, ein Schauer, der in dem
Moment eingesetzt hatte, als Hutte sich von mir verabschiedete."1
So beginnt "Die Gasse der dunklen
Läden" von Patrick Modiano. Zugegeben, ich hatte vor der
Verleihung des Literatur-Nobelpreises noch nie etwas von ihm gehört
oder gelesen. Aber nun habe ich probiert – und wurde nicht
enttäuscht. So greife ich ein paar Gedanken heraus, die ich bei der
Lektüre interessant fand.
Ein Mann sucht im Paris der fünfziger
Jahre seine Identität. Damit ist der wesentliche Inhalt des Romans
genannt. Nach dem eingangs beschriebenen Abschied von seinem Kollegen
(und augenscheinlich einzigem Freund) widmet sich der Ich-Erzähler
der Suche nach seinem früheren Leben. Die Erinnerungen daran sind
ihm in den Wirren des Kriegsendes verloren gegangen.
Licht sehen. S-Bahnhof Neukölln, Berlin, 2014. |
Der erste Satz steht klassisch für die
Situation des Protagonisten ohne Gedächtnis, der nach dem Abschied
allein bleibt – und sich gerade in dieser tiefsten Einsamkeit als
wirklich "nichts" fühlt.
Während der Verfolgung der
verschiedenen Hinweise durch das Paris jener Zeit kommt er einigen
Indizien über sich auf die Spur. Dabei begegnet er durch eine Reihe
von Szenen hindurch vielen anderen traurigen Einzelgängern, außerdem
werden einige (mehr oder weniger) poetische Betrachtungen zum Thema
Identität und Verlust derselben eingestreut.
Die Frage des Buches ist: Was bleibt
von einem Menschen? Wenn all die Dinge, die ein Leben ausmachen, wenn
alles, was geschehen ist, keine wirklichen Spuren hinterlässt, wenn
am Ende nichts bleibt von einem gelebten Leben, dann ist wirklich
alles Windhauch (Koh 1,2). Doch der Nachklang kann auch anders
angesehen werden:
"Ich glaube, man hört in den
Hausfluren noch lange die Schritte all der Menschen widerhallen, die
dort ein- und ausgingen und die seitdem verschwunden sind. Es bleiben
Schwingungen davon zurück, schwächer werdende Wellen, die man aber
aufzufangen vermag, wenn man darauf achtet. Wahrscheinlich bin ich
nie Pedro McEvoy gewesen, ich war nichts, aber Wellen durchdrangen
mich, schwache, die von weither kamen, und stärkere, und alle diese
verstreuten Echolaute, die in der Luft schwebten, verdichteten sich
und wurden ich."2
Über Gefühle und Assoziationen, über
Orte und Situationen imaginiert der Suchende eine Identität mit
Hilfe der Hinweise, die er bekommt. Was verdichtet sich da? Nur
Windhauch? Eine tatsächliche Erinnerung? Unklarheit herrscht nicht
nur über das Aussehen und sonstige Beziehungsgefüge in
Vergangenheit und Gegenwart, sondern Unsicherheit liegt auch über
den Ergebnissen der Suche:
Menschliche Spuren. Lübbenau, Spreewald, 2015. |
"Wir waren wieder in der Rue de
Rome. Gestern abend ging ich bis zur Nummer 97, und ich glaube, als
ich das hohe Gitter sah, die Schienenstränge und drüben auf der
anderen Seite die DUBONNET-Reklame, die die gesamte Fläche einer
Hauswand einnimmt und deren Farben seither sicherlich verblasst sind,
empfand ich das gleiche Gefühl der Angst wie damals."3
Vielleicht war es das gleiche Gefühl
von Angst – die Einzelheiten könnten darauf hindeuten. Vielleicht
war es aber auch anders und die Einzelheiten täuschen. Doch tritt in
einzelnen Erkenntnissen immer mehr das Bild eines Mannes hervor, der
unter verschiedenen Namen auch zwielichtige Geschäfte machte und es
augenscheinlich darauf anlegte, zu verschwinden. Anscheinend gehörte
er zu einer Gruppe gut betuchter Ausländer, die auf der Flucht vor
möglichen Häschern ihre wahre Identität loswerden wollten.
Wichtige Ereignisse, die gegen Kriegsende an der Grenze zur Schweiz
stattfanden, liegen im Dunkeln, oder im Bild des Autors, im Nebel:
Alles, was verräterisch hätte werden
können, "Wildmers rotbrauner Mantel und dunkelblauer Hut,
Gays Leopardenfell, Freddies Kamelhaarmantel, sein grüner Schal und
seine dicken schwarz-weißen Golfschuhe, verschwamm im Nebel. Wer
weiß? Vielleicht würden wir uns schließlich ganz auflösen. Oder
würden zu einem feuchten Atem werden, der sich auf den Scheiben
niederschlug, zu diesem zähen Beschlag, der sich nicht wegwischen
ließ."4
In Auflösung begriffen oder ein
bleibender Beschlag, der immer weitere Schlieren zieht – was ist
das Leben des Gesuchten-Suchenden? Dass die Suche nach dem eigenen
Leben später so schwer werden würde, war vorher nicht abzusehen.
Der spät im Roman auftretende viel
klarere Blick auf Ereignisse, Personen und die Identität des Ichs
dreht die Perspektive des Anfangs sogar um – das Ergebnis der
Recherche scheint klar zu sein, eine konkrete Person steht im Fokus.
Nun ist nicht mehr Verdichtung und Klärung angesagt, sondern eben
Nebel. Oder sogar Schnee:
Auf den Grund kommen. Baasem, Eifel, 2013. |
"In manchen Nächten schneite
es, und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Denise und ich würden
niemals hier herauskommen. Wir waren Gefangene, hier hinten in diesem
Tal, und der Schnee würde uns allmählich begraben. Nichts ist
deprimierender als Berge, die einem den Horizont versperren. Mitunter
bekam ich Panik. Dann öffnete ich die Balkontür, und wir traten
hinaus. Ich atmete tief die kalte Luft ein, die nach Tannennadeln
roch. Ich hatte keine Angst mehr. Im Gegenteil, ich empfand ein
Gefühl des Losgelöstseins, eine matte Traurigkeit, die von der
Landschaft kam. Und wir in ihr? Mir schien, als würde das Echo
unseres Tuns, unseres Lebens von dieser Watte erstickt, die in
leichten Flocken herniederfiel, auf den Kirchturm, auf den
Eislaufplatz und den Friedhof, auf die Straße, die sich wie ein
dunkler Strich durch das Tal zog."5
Das Lebensecho erstickt. In der
Situation des endenden Krieges, versteckt in den Bergen, ohne Kontakt
zur Außenwelt, empfindet er das Leben nur noch gedämpft. Am Ende
stand das "Gefühl des Losgelöstseins" über allem
Anderen. Schmerzhaft löst sich alles in den Schnee auf und die
Bodenhaftung auf dem zu erinnernden Leben muss mit goßer Anstrengung
wieder errungen werden.
Im Hier und Jetzt spielt die
Zukünftigkeit oft keine bedeutende Rolle. Für die Situation der in
den Bergen Versteckten heißt das im Buch: "Die Straße lief
bergan weiter, irgendwohin, aber ich war nie neugierig zu erkunden,
wohin."6
Vor dem großen Gedächtnisverlust triumphierte die Genügsamkeit,
die Interesselosigkeit. Danach wird existenziell wichtig, wohin die
Straße führt, dass sie überhaupt führt und geführt hat,
dass der "dunkle Strich" nicht vom Schnee bedeckt
wird.
Was bleibt also von einem Menschen?
Mehr als nichts, scheint das Buch zu sagen. Selbst wenn das
Gedächtnis fehlt! Die Neugier auf die eigenen Spuren bleibt auf jeden Fall.
1 P.
Modiano, Die Gasse der dunklen Läden. 1. Auflage Berlin 2014
(Original 1978, Original dt. 1988), 7.
2 Ebd.,
85.
3 Ebd.,
108.
4 Ebd.,
142.
5 Ebd.,
147.
6 Ebd.,
143.