Dienstag, 17. März 2015

"Ich bin nichts" – Über "Die Gasse der dunklen Läden" von Patrick Modiano

"Ich bin nichts. Nichts als eine blasse Silhouette, an diesem Abend, auf der Terasse eines Cafés. Ich wartete darauf, daß der Regen aufhörte, ein Schauer, der in dem Moment eingesetzt hatte, als Hutte sich von mir verabschiedete."1
So beginnt "Die Gasse der dunklen Läden" von Patrick Modiano. Zugegeben, ich hatte vor der Verleihung des Literatur-Nobelpreises noch nie etwas von ihm gehört oder gelesen. Aber nun habe ich probiert – und wurde nicht enttäuscht. So greife ich ein paar Gedanken heraus, die ich bei der Lektüre interessant fand.

Ein Mann sucht im Paris der fünfziger Jahre seine Identität. Damit ist der wesentliche Inhalt des Romans genannt. Nach dem eingangs beschriebenen Abschied von seinem Kollegen (und augenscheinlich einzigem Freund) widmet sich der Ich-Erzähler der Suche nach seinem früheren Leben. Die Erinnerungen daran sind ihm in den Wirren des Kriegsendes verloren gegangen. 

Licht sehen. S-Bahnhof Neukölln, Berlin, 2014.
Der erste Satz steht klassisch für die Situation des Protagonisten ohne Gedächtnis, der nach dem Abschied allein bleibt – und sich gerade in dieser tiefsten Einsamkeit als wirklich "nichts" fühlt.
Während der Verfolgung der verschiedenen Hinweise durch das Paris jener Zeit kommt er einigen Indizien über sich auf die Spur. Dabei begegnet er durch eine Reihe von Szenen hindurch vielen anderen traurigen Einzelgängern, außerdem werden einige (mehr oder weniger) poetische Betrachtungen zum Thema Identität und Verlust derselben eingestreut.

Die Frage des Buches ist: Was bleibt von einem Menschen? Wenn all die Dinge, die ein Leben ausmachen, wenn alles, was geschehen ist, keine wirklichen Spuren hinterlässt, wenn am Ende nichts bleibt von einem gelebten Leben, dann ist wirklich alles Windhauch (Koh 1,2). Doch der Nachklang kann auch anders angesehen werden:
"Ich glaube, man hört in den Hausfluren noch lange die Schritte all der Menschen widerhallen, die dort ein- und ausgingen und die seitdem verschwunden sind. Es bleiben Schwingungen davon zurück, schwächer werdende Wellen, die man aber aufzufangen vermag, wenn man darauf achtet. Wahrscheinlich bin ich nie Pedro McEvoy gewesen, ich war nichts, aber Wellen durchdrangen mich, schwache, die von weither kamen, und stärkere, und alle diese verstreuten Echolaute, die in der Luft schwebten, verdichteten sich und wurden ich."2

Über Gefühle und Assoziationen, über Orte und Situationen imaginiert der Suchende eine Identität mit Hilfe der Hinweise, die er bekommt. Was verdichtet sich da? Nur Windhauch? Eine tatsächliche Erinnerung? Unklarheit herrscht nicht nur über das Aussehen und sonstige Beziehungsgefüge in Vergangenheit und Gegenwart, sondern Unsicherheit liegt auch über den Ergebnissen der Suche:

Menschliche Spuren. Lübbenau, Spreewald, 2015.
"Wir waren wieder in der Rue de Rome. Gestern abend ging ich bis zur Nummer 97, und ich glaube, als ich das hohe Gitter sah, die Schienenstränge und drüben auf der anderen Seite die DUBONNET-Reklame, die die gesamte Fläche einer Hauswand einnimmt und deren Farben seither sicherlich verblasst sind, empfand ich das gleiche Gefühl der Angst wie damals."3

Vielleicht war es das gleiche Gefühl von Angst – die Einzelheiten könnten darauf hindeuten. Vielleicht war es aber auch anders und die Einzelheiten täuschen. Doch tritt in einzelnen Erkenntnissen immer mehr das Bild eines Mannes hervor, der unter verschiedenen Namen auch zwielichtige Geschäfte machte und es augenscheinlich darauf anlegte, zu verschwinden. Anscheinend gehörte er zu einer Gruppe gut betuchter Ausländer, die auf der Flucht vor möglichen Häschern ihre wahre Identität loswerden wollten. Wichtige Ereignisse, die gegen Kriegsende an der Grenze zur Schweiz stattfanden, liegen im Dunkeln, oder im Bild des Autors, im Nebel:

Alles, was verräterisch hätte werden können, "Wildmers rotbrauner Mantel und dunkelblauer Hut, Gays Leopardenfell, Freddies Kamelhaarmantel, sein grüner Schal und seine dicken schwarz-weißen Golfschuhe, verschwamm im Nebel. Wer weiß? Vielleicht würden wir uns schließlich ganz auflösen. Oder würden zu einem feuchten Atem werden, der sich auf den Scheiben niederschlug, zu diesem zähen Beschlag, der sich nicht wegwischen ließ."4

In Auflösung begriffen oder ein bleibender Beschlag, der immer weitere Schlieren zieht – was ist das Leben des Gesuchten-Suchenden? Dass die Suche nach dem eigenen Leben später so schwer werden würde, war vorher nicht abzusehen.
Der spät im Roman auftretende viel klarere Blick auf Ereignisse, Personen und die Identität des Ichs dreht die Perspektive des Anfangs sogar um – das Ergebnis der Recherche scheint klar zu sein, eine konkrete Person steht im Fokus. Nun ist nicht mehr Verdichtung und Klärung angesagt, sondern eben Nebel. Oder sogar Schnee:

Auf den Grund kommen. Baasem, Eifel, 2013.
"In manchen Nächten schneite es, und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Denise und ich würden niemals hier herauskommen. Wir waren Gefangene, hier hinten in diesem Tal, und der Schnee würde uns allmählich begraben. Nichts ist deprimierender als Berge, die einem den Horizont versperren. Mitunter bekam ich Panik. Dann öffnete ich die Balkontür, und wir traten hinaus. Ich atmete tief die kalte Luft ein, die nach Tannennadeln roch. Ich hatte keine Angst mehr. Im Gegenteil, ich empfand ein Gefühl des Losgelöstseins, eine matte Traurigkeit, die von der Landschaft kam. Und wir in ihr? Mir schien, als würde das Echo unseres Tuns, unseres Lebens von dieser Watte erstickt, die in leichten Flocken herniederfiel, auf den Kirchturm, auf den Eislaufplatz und den Friedhof, auf die Straße, die sich wie ein dunkler Strich durch das Tal zog."5

Das Lebensecho erstickt. In der Situation des endenden Krieges, versteckt in den Bergen, ohne Kontakt zur Außenwelt, empfindet er das Leben nur noch gedämpft. Am Ende stand das "Gefühl des Losgelöstseins" über allem Anderen. Schmerzhaft löst sich alles in den Schnee auf und die Bodenhaftung auf dem zu erinnernden Leben muss mit goßer Anstrengung wieder errungen werden.

Im Hier und Jetzt spielt die Zukünftigkeit oft keine bedeutende Rolle. Für die Situation der in den Bergen Versteckten heißt das im Buch: "Die Straße lief bergan weiter, irgendwohin, aber ich war nie neugierig zu erkunden, wohin."6 Vor dem großen Gedächtnisverlust triumphierte die Genügsamkeit, die Interesselosigkeit. Danach wird existenziell wichtig, wohin die Straße führt, dass sie überhaupt führt und geführt hat, dass der "dunkle Strich" nicht vom Schnee bedeckt wird.

Was bleibt also von einem Menschen? Mehr als nichts, scheint das Buch zu sagen. Selbst wenn das Gedächtnis fehlt! Die Neugier auf die eigenen Spuren bleibt auf jeden Fall.



1   P. Modiano, Die Gasse der dunklen Läden. 1. Auflage Berlin 2014 (Original 1978, Original dt. 1988), 7.
2   Ebd., 85.
3   Ebd., 108.
4   Ebd., 142.
5   Ebd., 147.
6   Ebd., 143.