"Heilige sie in der Wahrheit"
(Joh 17,17), so bittet Jesus im heutigen Evangelium seinen
himmlischen Vater für die Jünger. Was auch immer "in der
Wahrheit geheiligt zu werden" genau bedeutet, die Frage nach
Wahrheit war für das Christentum immer eine Herausforderung, wenn es
um andere Meinungen ging.
Die Kirche, in der ich dieses
Evangelium heute gehört habe, ist zur Zeit mit einer "khroma"
betitelten Installation der Künstlerin Gabi Schillig ausgestattet.
Mir ging auf dem Weg nach Hause auf, wie gut dieser Text und dieses
Kunstwerk zusammen passen.
khroma von oben. St. Christophorus Neukölln, Berlin, 2015. |
Der Kirchenraum wird durch farbige
Stoffbahnen zweigeteilt, oben und unten sind durch die dazwischen
hängenden Bahnen voneinander abgehoben. Es entsteht dadurch aber
nicht in erster Linie eine Abgrenzung nach oben für die unter der
Installation Sitzenden, sondern eine Öffnung – wer in der
Kirchenbank sitzt, kann problemlos nach oben schauen.
khroma von vorn. St. Christophorus Neukölln, Berlin, 2015. |
Allerdings sind andere Dinge im Raum
nicht oder nur teilweise sichtbar. Es zeigt sich je nach Position im
Raum, dass es von meinem Standpunkt abhängig ist, was ich sehen kann
von den wichtigen Elementen des Kirchenraums. Manches tritt hervor und wird betont, anderes verschwindet aus dem Blickfeld.
Vielleicht verschiebt sich auch manche
Wichtigkeit durch das Enthüllen und Verdecken. Sobald ich in
Bewegung komme, kann ich andere Dinge sehen, die mir zuvor vielleicht
nicht aufgefallen waren. Oder ich muss, um beispielsweise die
Liednummer während des Gottesdienstes zu sehen mit meinem Nachbarn
sprechen, weil es aus meinem Platz in der Kirchenbank einfach nicht
möglich ist zu sehen, was gerade gespielt wird.
Mit den Elementen der "christlichen
Wahrheit" ist es oft genauso, dass ich manchmal tastend nach ihnen suchen muss, weil meine derzeitige Lebensposition mir nicht
erlaubt, sie wahrzunehmen. Andere werden sich wundern, weil ihnen
diese Wahrheit so einsichtig und klar erscheint, aber dafür können
sie vielleicht andere Wahrheiten nicht wahrnehmen. Mit der
Marienfrömmigkeit oder der Haltung in der Ehe- und Sexualethik ist
dies meiner Erfahrung nach jedenfalls ganz gewiss so.
Leider führt dies nur zu oft dazu,
nicht die eigene Begrenztheit zu erkennen und die vielen Dinge, die
meinem freien Blick auf Gott im Weg stehen (oder hängen)
wahrzunehmen, sondern stattdessen anderen ihren Blick auf die
Wahrheit abzusprechen. Eins zu sein, wie es Jesus in v11 ebenso
erbittet, bedarf da augenscheinlich noch einiges an Weg.
khroma mit Kreuz. St. Christophorus Neukölln, Berlin, 2015. |
Papst Franziskus schreibt in Evangelii
Gaudium: "Man darf die Vollständigkeit der Botschaft des
Evangeliums nicht verstümmeln. Außerdem versteht man jede Wahrheit
besser, wenn man sie in Beziehung zu der harmonischen Ganzheit der
christlichen Botschaft setzt, und in diesem Zusammenhang haben alle
Wahrheiten ihre Bedeutung und erhellen sich gegenseitig."1
Nun wird es schwer möglich sein, in
jeder Predigt auf Vollständigkeit zu beharren, aber das Wesentliche
müsste schon erkennbar bleiben. Die Kunst dagegen braucht keine
Vollständigkeit und auch keine Harmonie; es ist ihr unbenommen, den
Gekreuzigten ohne kommenden Osterglanz darzustellen oder mit. Aber
auch sie kann andere Wahrheiten erhellen und zum Verständnis eines
Zusammenhangs beitragen. Oder auch den Prozess des Erhellens und
Abdunkelns beleuchten.
Ich finde, einen Anstoß dazu gibt die
textile Raumkunst in St. Christophorus ganz gut.
khroma von hinten. St. Christophorus Neukölln, Berlin, 2015. |
1 Papst
Franziskus, Die Freude des Evangeliums. Das Apostolische Schreiben
"Evangelii Gaudium" über die Verkündigung des
Evangeliums in der Welt von heute. Freiburg i.Br. 2013, No 39.