Vor 70 Jahren endete der Zweite
Weltkrieg. Doch den jetzt nach und nach sterbenden Generationen der
Menschen, die ihn unmittelbar erlebten, steckt er noch in den
Knochen. Welche Veränderungen der Krieg in einem Leben bewirkt hat,
hängt wohl weitgehend vom psychischen Grundgerüst ab, mit dem die
verschiedenen Widerfahrnisse verarbeitet werden müssen.
Ich habe in den letzten Monaten mehr
oder weniger zufällig literarische Zeugnisse aus mehreren
unterschiedlich in den Krieg verstrickten Nationen gelesen, die das
nachträgliche Spuken in verschiedener Weise thematisieren. Einige
(nicht exemplarische!) möchte ich kurz vorstellen:
Hochbunker im Kraftfutterumfeld. Bremen, 2015. |
In Patricks Modianos "Die Gasse der dunklen Läden" wiederum findet ein Franzose seine
Identität nach dem Krieg nicht wieder. Er irrt durch einen Roman
voller Andeutungen und Schnipsel, die ihm zu guter Letzt ein neues
Bild seines früheren Lebens erstehen lassen, in dem er es
kriegsbedingt gerade darauf anlegte, nicht erkennbar zu sein. In
einem Rückblick philosophiert er über die undeutliche
Unvergänglichkeit: "Vielleicht würden wir uns schließlich
ganz auflösen. Oder würden zu einem feuchten Atem werden, der sich
auf den Scheiben niederschlug, zu diesem zähen Beschlag, der sich
nicht wegwischen ließ."2
Sein Ringen um sich selbst bringt ihm zu Bewusstsein, dass sein Leben tatsächlich nicht wegzuwischen war.
Sein Ringen um sich selbst bringt ihm zu Bewusstsein, dass sein Leben tatsächlich nicht wegzuwischen war.
Auch "Die schöne Frau
Seidenmann" von Andrzej Szczypiorski macht auf Probleme mit
erzwungenen Identitätswechseln aufmerksam. Die Jüdin Irma
Seidenmann verwirrt sich lange nach dem Krieg in ihrer neu
angenommenen Identität als (nichtjüdische) polnische
Offizierswitwe. Als sie überraschend Besuch von ihrem Bekannten Dr.
Korda bekommt, überfallen Panik und Zweifel sie: sie entschließt
sich, "schnellstens die Wohnung zu wechseln. Die Papiere
auch. Soll ich Warschau verlassen? Aber wohin? Das hat doch keinen
Sinn. Nur in Warschau besitze ich einen Rückhalt, hier sind
freundliche Menschen. Und wozu die Wohnung, die Papiere wechseln? Ich
heiße doch Maria Magdalena Gostomska, ich bin Offizierswitwe.
Bessere Papiere kriege ich nie. Dieser arme Dr. Korda hat keine
Ahnung, dass ich Jüdin bin. Bin ich Jüdin? Unsinn! Ich heiße
Gostomska. Nie bin ich jemand anderes gewesen. ...
Sie warf den Kamm geräuschvoll auf die Ablage und wandte sich vom Spiegel weg. Ich werde verrückt, dachte sie, ich muss mich beherrschen, ich muss mich in der Hand behalten, sonst verwirrt sich's mir im Kopfe."3
Sie warf den Kamm geräuschvoll auf die Ablage und wandte sich vom Spiegel weg. Ich werde verrückt, dachte sie, ich muss mich beherrschen, ich muss mich in der Hand behalten, sonst verwirrt sich's mir im Kopfe."3
Geleise im Schnee. Jena-Lobeda, 2014. |
Von anderen Verwirrungen lesen wir bei
Katja Petrowskaja in ihrer literarisch aufgearbeiteten
Familiensuchgeschichte "Vielleicht Esther". Im Kiew
der postsowjetischen Zeit offenbart sich die Tragik in alltäglichen
Handlungen:
"Jedesmal wenn der Zeiger eines
uns unbekannten Messgeräts ausschlug, ging Babuschka hinunter zur
Bäckerei. Sie kaufte ein Viertel Brot und versteckte es unter dem
Kissen. So trickst man den Tod aus, du besorgst dir einen Brotkanten,
und der Tod kann dir nichts anhaben. Je älter sie wurde, desto
tiefer sank sie zurück in den Krieg. Meine Mutter war jedesmal
entsetzt, wenn sie eines dieser Stücke fand, es war ein verbreitetes
Kriegssyndrom und niemand wusste ein Mittel dagegen."4
Es scheint, als könne man sogar den Tod überlisten, jedoch nicht die eigenen Erinnerungen.
Es scheint, als könne man sogar den Tod überlisten, jedoch nicht die eigenen Erinnerungen.
Ähnlich gelagerte Traumatisierungen
schildert ausführlich Hanns-Josef Ortheil in "Abschied von
den Kriegsteilnehmern" von 1992. Die Erlebnisse der
Kriegsnöte haben ihre Spuren bei der Mutter des Protagonisten
hinterlassen: "Mutter hat nie vom Ende des Krieges
gesprochen, Mutter hat auch in den Nachkriegsjahren immer mit einem
neuen Krieg gerechnet. An solchen Tagen begann sich für Mutter alles
von neuem zu verwirren, Mutter wurde krank, Mutter begann Brote zu
schmieren und Vorräte zu horten, und Mutter schrieb kleine Zettel,
auf denen stand: 'Mein Sohn kann heute und morgen nicht zur Schule
gehen, weil er sich nicht wohl fühlt.'"5
Der einzig verbliebene Sohn durfte der
Mutter nicht von der Seite weichen. Schubweise wurde diese vom Leid
angefressene Frau wieder und wieder von ihrer Angst erfasst: "Mutter
hatte eine Art innerer Uhr, eine Art Seismographen, der auf
'deutsch', 'das Deutsche', 'die Deutschen' und 'Deutschland'
reagierte, sie lag immerzu auf der Lauer nach schlimmen Meldungen,
und schon ganz harmlose Meldungen, Meldungen eines Streiks, eines
größeren Unglücks, irgendeines fremden, in einem fernen Winkel des
Landes geschehenen Ereignisses brachten sie ganz durcheinander."6
In all diesen Nationen gab und gibt es
noch unheimlich viel mehr Versehrte, die durcheinander gebracht
werden durch ihre persönlichen "Gefahr- und Warnlaute".7
Denn Krieg, sei es dieser oder andere
Kriege, hat eine unheimlich lange Nachgeschichte in den Biographien
und Familien. Manchmal nicht allzu offensichtlich - und oftmals
aufreibender als in der Literatur eingefangen. In allen Nationen.
1 J.
Williams, Stoner. München 2014 (Original 1965), 312.
2 P.
Modiano, Die Gasse der dunklen Läden. 1. Auflage Berlin 2014
(Original 1978, Original dt. 1988), 142.
3 A.
Szczypiorski, Die schöne Frau Seidenmann. Lizenzausgabe München
2004, 199.
4 K.
Petrowskaja, Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin 2014, 64f.
5 H.-J.
Ortheil, Abschied von den Kriegsteilnehmern. 2. Auflage München
2005, 326.
6 Ebd.,
328.
7 Ebd.