Freitag, 24. April 2015

Erde und Dichte - Tod und Auferstehung in John Williams' "Stoner"

William Stoner stirbt in diesem Roman viele Tode. Mobbing, Ehekrach, Entfremdung vom Kind, eine zerstörte Romanze und vieles mehr. Außerdem beginnt und endet alles mit dem Tod des Protagonisten. Vom Tod her und auf ihn hin wird der ganze Roman entwickelt. Aber dazwischen erscheinen auch einige (wenige) Auferstehungserfahrungen.


Zunächst grundsätzlich: Der Roman "Stoner"1 erschien 1965 in den USA und wurde nach fast 50 Jahren 2013 in Deutschland herausgegeben, seitdem überschlagen sich hierzulande die positiven Kritiken.
Sonnenlicht. Dornburger Schlösser, 2015.
In spröde-zärtlicher Weise erzählt der Literaturprofessor John Williams die Lebensgeschichte des Literaturdozenten William Stoner in Missouri zu Beginn und in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Es sind viele ergreifende und traurige Einzelszenen, die den Roman ausmachen, alles schwebt in zurückgenommener Sprache zwischen tief in die Figuren eintauchender Innensicht und völliger Unkenntnis der jeweiligen Motive. Diese Sprache schneidet viele existenzielle Themen an und erinnert mit ihrem herben Charme bisweilen an Camus.

Das Erweckungserlebnis des damaligen Studenten, von dem aus sein ganzes Leben umgeprägt wird, hat die Form einer Auferstehung des Alten in sein Leben hinein, die auch für ihn zur Auferstehung in sein neues Leben wird. Denn aus dem Einführungskurs in Englischer Literatur wächst für den auf Geheiß der Eltern Agrarwissenschaften Studierenden eine Lebensberufung.
Die innere Welt Stoners erscheint so:

"Die Vergangenheit schälte sich aus dem Dunkel, in dem sie blieb, und die Toten erhoben sich, um vor ihm zum Leben zu erwachen; beide, die Vergangenheit und die Toten, mischten sich in die Gegenwart und unter die Lebenden, wodurch Stoner einen intensiven Moment lang eine Vision von Dichtigkeit überkam, in die er fest eingefügt war und der er nicht entkommen konnte, der er auch gar nicht entkommen wollte. ... Und er war auf eine Weise bei ihnen, wie er nie bei seinen Mitmenschen sein konnte ..."2

Darin besteht die Kraft der Literatur – "Dichtigkeit" und Gegenwart erzeugen zu können, so dass eine Beziehung entsteht, die unvergleichlich ist mit der Beziehung zu den Gegenwartsmenschen. Das kann bisweilen ausarten in Eskapismus, so wie es heute am ehesten durch amerikanische Fernsehserien oder Computerspiele geschieht. Es kann aber auch ein Leben umkrempeln und ihm eine neue Richtung geben. So im Falle Stoners.

Dagegen stellt sich im Roman die Erbärmlichkeit, mit der die Landarbeit die Eltern Stoners aufgefressen hat. Nichts wird von ihnen bleiben, ihr Tod scheint vollkommen zu sein. In einer bewegenden Reflexion, die ich als Mischung von Ehrfurcht und nüchterner Einsicht in die Vergeblichkeit menschlichen Tuns lese, schildert Williams nach dem Tod von Stoners Mutter dessen Gedanken zur Vergänglichkeit:

"Er drehte sich um auf dem kleinen, kahlen, baumlosen Friedhof, auf dem Leute wie sein Vater und seine Mutter begraben lagen, und blickte über das flache Land zur Farm, auf der er geboren worden war und auf der seine Eltern ihre Leben verbracht hatten. Er dachte daran, was ihnen Jahr um Jahr die Erde abverlangt hatte, die doch blieb, wie sie gewesen war – nur vielleicht ein wenig karger, ein wenig ärmer. Nichts hatte sich geändert. Ihr Leben war in freudloser Arbeit verausgabt, ihr Wille gebrochen, ihr Verstand betäubt worden. Jetzt lagen sie in der Erde, der sie alles gegeben hatten, und langsam, Jahr um Jahr, würde die Erde sie sich holen. Feuchtigkeit und Fäulnis würden sich über die Kiefernkisten hermachen, in denen ihre toten Körper lagen, würden langsam auch auf ihr Fleisch übergreifen, bis schließlich auch die letzten Spuren ihrer Existenz vernichtet waren. Dann würden sie ein bedeutungsloser Teil der widerspenstigen Erde geworden sein, der sie sich schon vor langer Zeit verschrieben hatten."3

Sturm. Neukölln, Berlin, 2015.
Was von einem Menschen bleibt? Nichts als die Erde, in die er verwandelt wird, scheint dieser Text zu sagen. Alles Schaffen und Mühen umsonst, das Pflügen der Erde verhindert nicht, irgendwann wieder zu ihr zu werden. Hier steckt ein biblisches Bewusstsein von Mühe und Vergänglichkeit, das nicht explizit wird und auch keine weitere Metaphysik als Kontrapunkt dazu in den Roman entlässt. Das Kontra ist bei Williams der lebendige Mensch Stoner, dessen sprechender steinerner Charakter-Name erst spät noch einmal aufgeweicht wird.

Denn selbst dann, als er in der Doktorandin Katherine seine Liebe findet, stellt er sich merkwürdig unbeholfen und sogar distanziert dar. Nur sehr langsam und "Tag für Tag fielen Schutzhüllen" um letztlich "füreinander offen"4 zu werden. Es bleibt ein stilles Aufblühen, das nicht mit dem Erlebnis des Anfangs zu vergleichen ist.
Diese Erlebnisdichte wird erst wieder erreicht, als alles schon vorbei ist – der gesellschaftliche Tod seiner wahren, aber außerehelichen Liebe reißt Stoner seelisch tief hinunter – und erst viele Jahre später, beim Lesen der Widmung ihrer Doktorarbeit, seinen Initialien, öffnet sich erneut die intensive Gegenwart der geliebten Frau in ihm und damit auch die alten-neuen Gefühle:

"Plötzlich war ihm, als sei sie nebenan und er habe sie gerade erst verlassen; die Hände kribbelten, als hätten sie Katherine noch eben berührt. Da brach sich das so lang aufgestaute Verlustgefühl Bahn, überflutete ihn und er ließ sich mitreißen, verlor alle Beherrschung. Er wollte nicht gerettet werden. Dann lächelte er liebevoll wie über eine Einnerung, und ihm kam der Gedanke, dass er auf die sechzig zuging, weshalb er über solche Leidenschaften erhaben sein sollte, über eine solche Liebe. Doch er wusste, er war es nicht und würde es nie sein. Jenseits von Taubheit, Verlust und Gleichgültigkeit gab es sie, diese Leidenschaft, stark und ungeschmälert, und sie war immer da gewesen."5

Wie eine Offenbarung ist das für Stoner. Sich überfluten lassen von sich selbst, die Leidenschaft zu spüren und als gut anzuerkennen, das ist für ihn wirkliche Lebendigkeit. Und es ist bemerkenswert, dass Williams diese Szene in den Kontext des Kriegsendes setzt, als die kriegserprobten Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg zurück in die Heimat und an die Universität kommen:

"Die Kriegsveteranen kehrten zurück und brachten eine neue Qualität mit, die es vorher nicht gegeben hatte, eine Intensität und einen Trubel, die zu einer wahrhaften Verwandlung führten."6

Die Studenten, heißt es, "waren ungeheuer ernst und verachteten alles Triviale."7 Erfahrungen der Nähe des Todes und das Leiden am vom Tode bedrohten Leben, solche starken Erfahrungen schenken augenscheinlich ein Gespür für Leben und für Qualität, wie Stoner sie selbst am Beginn seiner Literaturbegeisterung spürte.
Vielleicht führt ihn auch dieses Klima zur Neuentdeckung seiner eigenen Lebendigkeit aus der verlorenen Liebe.

Geschlossenes Wohnen. Hufeisensiedlung. Neukölln, Berlin, 2014.

1   J. Williams, Stoner. München 2014.
2   Ebd., 24.
3   Ebd., 138.
4   Ebd., 245.
5   Ebd., 314.
6   Ebd., 312.
7   Ebd.