Überall kann man man dieser Tage
Informationen, Meinungen und Reflexionen zum Kriegsende vor 70 Jahren
bekommen. Jegliche Gruppe von Beteiligten oder Betroffenen wird
bedacht, die deutsche und die internationale Perspektive mit allen
erdenklichen Folgen, die regionale Kultur und die Spuren in unseren
Städten, alles wird rege angeschaut und kommentiert.
Eigentlich ist alles von allen gesagt.
Und doch frage ich mich, über all die mediale
und politische Aktion hinaus: Warum fasziniert mich persönlich
dieses Ende des nationalsozialistischen Regimes mit seiner
Terrorherrschaft und die militärische Niederschlagung Deutschlands
mit der folgenden Teilung und dem Frieden so?
Wandlungen. Charlottenburg, Berlin, 2015. |
Ich höre die Überlegungen, Debatten
und Mahnungen aufmerksam und nehme regen Anteil. Außerdem habe ich
mich in den letzten Jahren immer wieder mit dem Krieg und besonders
seinem Ende beschäftigt: ich konnte überlebende KZ-Häftlinge
besuchen und ihnen zuhören, ich habe Seelow und Kostrzyn, zwei stark
umkämpfte Orte der letzten Kriegswochen und -tage sowie einige
Berliner Gedenkorte auf mich wirken lassen und manches an
Tagebüchern, Berichten, Sachtexten und literarischen Verarbeitungen
zum Thema gelesen. Auch in diesem Blog habe ich an einigen Stellen
Fragen
und Gedanken
dazu eingewoben
oder mich explizit
dazu geäußert.
Wenn ich also darüber nachdenke,
fallen mir vornehmlich drei kurze Punkte ein, die auch mit dem
"Prinzip" dieses Blogs zu tun haben.
Denn ich schaue mich immer wieder mit
einem suchenden Blick (auch in der Geschichte) um und versuche,
Spuren Gottes zu finden. Der schriftliche Versuch an dieser Stelle
besteht darin, die Welt mit einem quasi-sakramentalen Blick zu
durchleuchten und das wahrzunehmen, was mir Gott damit sagen will.
Wie ist das also mit dem Ende des
schrecklich großen Krieges vor 70 Jahren und mit meinem Leben vor
Gott, wenn ich von den biographischen und politischen Spuren weitgehend absehe
und vornehmlich die religiöse Fragestellung aufnehme?
1
Wir sind alle Versehrte.
Keine Familie, die im Verlauf des
Krieges nicht mit Verlusten umzugehen hatte. Überall war
Trauerarbeit nötig, musste Verstörendes und Schreckliches
verarbeitet werden. Lagerhaft, Verluste von Familienmitgliedern,
Hunger, Flucht, Fronterfahrungen – all das ist nicht miteinander
vergleichbar. Aber es kommt in dem Punkt überein, dass die, die
durch diese Erfahrungen hindurchgegangen sind und nach dem Krieg
weiterlebten, Versehrte waren.
Solche Narben, größere oder kleinere,
tragen alle Menschen durch ihr Leben. Enttäuschung oder Einamkeit,
die ständige bange Unsicherheit angesichts des Kommenden oder ein
Gefühl von ewigem Überdruss – und in ihrem Gefolge metaphysische
Heimatlosigkeit oder verzweifeltes Klammern an einzelne letzte
Gewissheiten scheinen mir heutige Merkmale dessen zu sein.
Als Zeitdiagnosen dafür mögen die
hektisch-hedonistische Eventkultur, ein sozial zersetzend wirkendes
Autonomiestreben, die Aushöhlung der Innerlichkeit oder das
Destruieren institutionalisierter Gewissheiten stehen. Denn mit der
Überhöhung bestimmter Bereiche von Wissenschaft, Ökonomie,
Politikverdruss, Kritik an tradierten Normen bleibt schlussendlich
nur ein ent-setztes leeres Individuum im leeren Raum übrig. Selten
genug erfährt jemand ein beständiges "Ruhen im Vertrauen
auf den Sinn der Welt und des Lebens, aus dem wir alle in gewissem
Maße die Kraft zum Leben und Überleben schöpfen."1
Die gefühlte Intensität und die
konkrete Auswirkung solcher Versehrung mag verschieden sein, aber auf
einem bestimmten Feld unseres Lebens tragen wir alle eine solche Last
mit uns. In Kriegs- und Nachkriegszeiten mag das besonders
deutlich hervortreten, in gewisser Weise stehen diese Zeiten jedoch
exemplarisch für alle Zeiten.
Weg ins Nichts. Spreewald bei Lübbenau, 2015. |
2
Es gibt eine Gnade des Neuanfangs.
Das ist nicht selbstverständlich,
nicht in unseren individuellen Leben und nicht nach einem auf der
ganzen Welt wütenden Krieg. Und doch haben gerade wir Deutschen das
Privileg gehabt, nicht nach Morgenthau-Plänen in einen Agrarstaat
verwandelt zu werden, sondern mit einem Marshallplan wieder
aufgepäppelt und in die Staatengemeinschaft integriert zu werden.
Im persönlichen Erleben ist dies ein
Geschenk von Versöhnung, das nicht gemacht oder erzwungen werden
kann. Wie in den internationalen Beziehungen nach dem Krieg, so muss
auch hier langsam etwas Neues wachsen können, das zerrissene
Tischtuch braucht reichlich Näharbeit und neben das vergebende
Vergessen muss das kritische Erinnern treten.
Religiös gesprochen: Der Wegwendung
des Menschen vom Gott-Verlassen-Haben und der Hinwendung zu Ihm kommt
dieser Gott mit immer wieder neu offenen Armen entgegen, in die zu
fallen unter Umständen zwar ein Abgehen vom Selbstbesitz, aber eben
auch ein Hineingehen in geteilte Freude bedeutet. Das Gewähren der
Möglichkeit, nach allem Graus noch einmal neu anfangen zu können,
ist für mich eine der wichtigsten Haltungen
Gottes (siehe dazu auch das Gleichnis von barmherzigen Vater in
Lk 15,11-32)
3
Frieden kommt nicht von allein.
Dies ist das Gegenstück zum eben
Gesagten und klang ja auch schon an. Ein neuer Anfang ist möglich –
aber er muss manchmal sehr hart errungen werden, wie sich an der
langwierigen Niederringung Deutschlands bis zum 08. Mai 1945 zeigte.
Friedlich ist nicht in erster Linie der
Pazifist, sondern der, der Frieden schafft. Denn auch wenn das
derzeitige Meinungsklima hier eine andere Prioritätensetzung
vornimmt, sollte man sich doch vor Augen führen, dass manchmal (!)
mehr Schuld, mehr Leid und mehr Krieg entstehen, wenn gar nichts
(oder diplomatisch erst zu spät etwas) getan wird, als wenn im
äußersten Fall auch die Möglichkeit eines militärischen Eingriffs
in Erwägung
gezogen wird.
Auch das lehrt die letztlich
aufgegebene Apeasement-Politik in den Beziehungen mit dem
nationalsozialistischen Regime und der Schwenk hin zum bewaffneten
Handeln.
Bei aller legitimen moralischen und
politischen Anfechtbarkeit eines Waffeneinsatzes an anderen Orten bin
ich nämlich dankbar für den Frieden, der im Zweiten Weltkrieg
(auch) durch militärischen Einsatz errungen wurde, auch wenn
währenddessen und danach viel Leid und Unrecht geschah.
Aber eben von diesem so
hart erkämpften Frieden leben wir in Europa spätestens nach dem
Fall des Kommunismus.
Die Absage an das Böse und der Kampf dagegen sind dementsprechend auch keine unwichtigen Bestandteile christlicher Lebensführung, wenn Frieden mit Gott und den Menschen gesucht wird.
Frühlingslandschaft mit Obdachlosem. Rixdorf, Berlin, 2015. |
1 T.
Halík, Berühre die Wunden. Über Leid, Vertrauen und die Kunst der
Verwandlung. Freiburg i.Br. 2. Aufl 2014, 128.