Es gibt Momente, in denen Menschen eine
Art neuer Offenbarung der Realität haben. Die Dinge und Menschen um
sie herum bekommen eine neue Qualität und erscheinen in anderem
Licht. Das Vorzeichen der Welterfahrung ändert sich, vielleicht nur
für Augenblicke, vielleicht so lebensprägend, dass einer für sein
Leben gezeichnet ist.
Ich habe solche Momente in den letzten
Wochen hier in meinen Gedanken zum Film "Superwelt"
und zum Roman "Stoner" beschrieben. Möglicherweise
liegen solche Momente auch den biblischen Erzählungen der
Begegnungen mit dem Auferstandenen bei den Emmausjüngern oder beim
skeptischen Thomas zugrunde. Ich persönlich erlebe das manchmal in
den atemberaubenden Augenblicken, wenn mir klar wird, was für ein
Wunder dieses Kind ist, dessen Vater ich jetzt seit einem halben Jahr
bin.
Kanalisierung. Augusteum, Wittenberg, 2015. |
Ein literarisches Schmuckstück stellt
diesbezüglich eine Szene in Erich Maria Remarques Roman über die
Zwischenkriegszeit "Der schwarze Obelisk" dar.
Der Ich-Erzähler Ludwig, ein junger
Skeptiker und beruflich erfolgloser Kriegsheimkehrer, der während
der Zeit der galoppierenden Inflation nahe dem titelgebenden
schwarzen Obelisken wohnt, verdient sich ein Zubrot als Organist im
Irrenhaus (so die Bezeichnung Remarques). Dort hat er gelegentlich
auch die Möglichkeit eines kostenlosen Abendessens mit dem Pfarrer
und dem Anstaltsarzt.
An einem gewittrigen Abend und im
Anschluss an eine bittere Diskussion über die Liebe Gottes und das
Leid in der Welt wird folgende Szene geschildert:
"Ich habe plötzlich keine Lust
mehr zu essen und stehe auf und gehe ans Fenster. Hinter den bewegten
schwarzen Wipfeln ist eine Wolkenwand mit fahlen Rändern
emporgewachsen. Ich starre hinaus. Alles scheint auf einmal sehr
fremd, und hinter dem vertrauten Gartenbild drängt ein anderes,
wilderes schweigend hervor, das das alte wegstößt wie eine leere
Hülse."1
Es hat den Protagonisten also gepackt,
er spinnt in diesem tranceartigen Zustand seine zunächst an Platon
erinnernden Gedanken weiter auf der Suche nach der "Urlandschaft,
bevor sie zur Landschaft unserer Sinne wurde ... Wissen wir noch
etwas davon? Oder sind wir gefangen in einem Netz von Begriffen und
Worten, von Logik und täuschender Vernunft, und dahinter stehen die
einsam lodernden Urfeuer, zu denen wir keinen Zugang mehr haben, weil
wir sie in Nützlichkeit und Wärme verwandelt haben, in Küchenfeuer
und Heizung und Schwindel und Gewissheit und Bürgerlichkeit und
Mauern und allenfalls in ein türkisches Bad schwitzender Philosophie
und Wissenschaft? Wo sind sie? Stehen sie immer noch unfassbar und
rein und unzugänglich hinter Leben und Tod, bevor sie Leben und Tod
für uns wurden, und sind vielleicht nur die, die jetzt in diesem
Hause in ihren vergitterten Zimmern hocken und schleichen und starren
und das Gewitter in ihrem Blut fühlen, ihnen nahe? Wo ist die
Grenze, die Chaos von Ordnung scheidet, und wer kann sie
überschreiten und zurückkommen, und wenn es ihm gelingt, wer weiß
dann noch etwas davon? Löscht das eine nicht die Erinnerung an das
andere aus? Wer ist der Gestörte, Gezeichnete, Verbannte, sind wir
es mit unseren Grenzen, mit unserer Vernunft, unserem geordneten
Weltbild, oder sind es die anderen, durch die das Chaos rast und
blitzt, und die dem Grenzenlosen preisgegeben sind wie Zimmer ohne
Türen, ohne Decke, Räume mit drei Winden, in die es hineinblitzt
und stürmt und regnet, während wir anderen stolz in unseren
geschlossenen Zimmern mit Türen und vier Wänden umhergehen und
glauben, wir seien überlegen, weil wir dem Chaos entkommen sind?"2
Es hat mich in den Fingern gejuckt,
diesen herrlichen Text zu unterbrechen und zu kommentieren, aber er
soll als Ganzer hier stehen. Ich glaube, für solchen
Anspielungsreichtum sind die mittelalterlichen Glossen rings um einen
Fließtext erfunden worden.
Ring im Dickicht. Kiehlufer, Neukölln, Berlin, 2015. |
Denn die Fragen des Textes stellen sich
religiösen Menschen ja ganz unmittelbar: Sind wir mit der
Domestizierung des Heiligen so weit vorangeschritten, dass wir es gar
nicht mehr spüren? Hat Gott noch eine Chance, uns zu erreichen
zwischen Küchenfeuer, Heizung und Mauern? Sind wir Gottes alles
durcheinanderwirbelnden Chaos tatsächlich entgangen – oder sind
wir, wie Nietzsche schrieb, noch fähig, "einen tanzenden
Stern zu gebären"?
Remarques Antwort folgt auf dem Fuße:
"Ich drehe mich um. Der Mann
des Glaubens und der Mann der Wissenschaft sitzen unter dem Licht,
das sie bescheint. Die Welt ist keine vage, zitternde Unruhe für
sie, kein Murren aus der Tiefen, kein Wetterleuchten aus eisigen
Ätherräumen – sie sind Männer des Glaubens und der Wissenschaft,
sie haben Senkblei und Lot und Waage und Maß, jeder ein anderes,
aber das ficht sie nicht an, sie sind sicher sie haben Namen, die sie
wie Etiketten auf alles kleben können, sie schlafen gut, sie haben
einen Zweck, das genügt ihnen, und selbst das Grauen, der schwarze
Vorhang vor dem Selbstmord, hat seinen wohlgeordneten Platz in ihrem
Dasein, es hat einen Namen und ist klassifiziert und damit
ungefährlich geworden."3
In unserer Zeit scheint mir das eine
spannende Gleichsetzung von Wissenschaft und Glaube zu sein.
Klassifizierer unter sich, die kein Leuchten außerhalb ihres
Lampenscheins kennen wollen.
Denn auch wenn Christen auf Gott
vertrauen mögen, stellt sich doch die Frage, ob all unsere
Christlichkeit nicht zu oft im beruhigenden Licht bleibt, in dem wir
glauben, alles begreifen und erklären zu können, gerade auch
Theologen.
Brauchten wir nicht viel öfter diese
heilsame Unruhe, von der Remarque schreibt – und die ja auch Papst
Franziskus mit seinen Rufen zum Aufbruch einfordert? Ist da nicht
allzu oft zu viel Selbstgewissheit und viel mehr Antwort als Frage?
Ich meine, dass Remarque hier ein glänzendes Stück Literatur zur
theologischen Erkenntnistheorie beigesteuert hat. Durch sie öffnet
sich ein Zugang zur apophatischen Theologie, die sich auf ihren
Frage-Weg macht, um das Unsagbare Gottes wieder in den Blick zu
nehmen.
Vielleicht ist das ja eine
heilsam-beunruhigende Herausforderung für uns, um uns neuerlich dem
Grenzenlosen preiszugeben.
Chaos wagen. Neukölln, Berlin, 2015. |
1 E.M.
Remarque, Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten
Jugend. Köln 1998, 95.
2 Ebd.