Samstag, 23. Januar 2016

"Dabei hielten sie sich an die Überlieferung..." – Geistesgegenwart durch Tradition

Als Sozialwesen stehen wir Menschen nicht nur in biologischer Beziehung zu unseren Vorfahren, sondern in einer langen Reihe von Traditionen und Überlieferungen, die über unsere persönlichen Herkünfte und Überzeugungen hinausgehen. Das mögen wir im Einzelfall schätzen oder nicht, wir haben immerhin die (relative) Freiheit, uns dazu zu verhalten.
Wenn in einigen Tagen zum Beispiel der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, kann uns dieses Gedenken beunruhigen oder erschüttern oder aggressiv machen oder wir können es als nicht zu uns gehörig abweisen – inwieweit wir mit einer Reaktion der Sache und uns selbst gerecht werden, steht dann wiederum verschiedenen Interpretationen und Werturteilen offen.

Das Evangelium des heutigen Sonntags berichtet ebenso vom spezifischen Verhältnis, in das sich Menschen zu einer vorgegebenen Tradition stellen.

So beginnt der Autor des Lukasevangeliums sein Werk:

Altes und Sonne. An der Schäferei, Rüdersdorf, 2015.
"Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben." (Lk 1,1-3)

Der Autor will also klar machen, dass er sich einerseits in eine Kontinuität mit den zuvor Schreibenden stellt und sich bei seinem Vorgehen an sie halten möchte, andererseits augenscheinlich die Notwendigkeit sieht, dass die Dinge noch einmal richtig "sorgfältig" und "von Grund auf" dargestellt werden.

So weit, so ähnlich zu Auslegungs- und Tradierungsprozessen in anderen Kontexten, die ebenfalls anschließen an schon Gesagtes und sich zugleich durch Stil oder Gattung oder noch anders davon abheben wollen.

Den biblischen Texten sprechen nun aber Christen auf der ganzen Welt eine besondere Bedeutung zu, mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil: sie "ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde" (DV 9). In den Evangelien, die "zuverlässig überliefern, was Jesus, der Sohn Gottes, in seinem Leben unter den Menschen zu deren ewigem Heil wirklich getan und gelehrt hat" (DV 19) wird so das Wort Gottes in besonderer Weise bezeugt.
Diese besondere Bedeutung der Heiligen Schrift und besonders der Evangelien ist nichts, das sich aus ihrem Inhalt oder ihrer Form oder ihrer Sprache ergibt, sondern etwas, das nur im Heiligen Geist und im Glauben erfahren werden kann. 

Denn wer gläubig darauf vertraut, dass Gott selbst sich in den Worten der Schrift aussagen wollte und sich auf diese Weise den Menschen überliefert, der kann Gottes Gegenwart bei der Lektüre und Anwendung der Schrift erfahren. So ging es dem aus der Verbannung heimgekehrten Volk Israel, als ihnen das Gesetz Gottes vorgelesen wurde, wie es in der Lesung (Neh 8) heißt: Dort las man "aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, so dass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten" (v8) und dabei begannen zu weinen. (v9)

Tradiertes Kreuz.
Grabeskirche, Jerusalem, 2013.
Die Überzeugung, dass es Gottes Gegenwart ist, die in der Heiligen Schrift, in den Sakramenten, in der gemeinsamen Feier des Gottesdienstes und letztlich in der ganzen Tradition der Kirche zum Tragen kommt, gründet sich auf den Glauben daran, dass schon die Menschwerdung eine Art "Überlieferung" (traditio) an die Menschen ist und viel mehr noch die "Auslieferung" (traditio) Jesu in Kreuz und Tod an den Urgrund dessen erinnert, was kirchliche "Tradition" eigentlich bedeutet. Dies nämlich, dass Gott selbst Ursache, wirklicher Träger, wahrer Inhalt und letztes Ziel jeder Tradition ist, ja dass es in der Tradition der Kirche im eigentlichen Sinne "Selbstüberlieferung Gottes durch Jesus Christus im Heiligen Geist zu je neuer Gegenwart"1 ist.

Das meint selbstverständlich nicht, dass jegliche kirchliche Tradition sakrosankt und direkt auf die Gegenwart Gottes bezogen wäre, wohl aber, dass Gott im Gesamt der kirchlichen Tradition im Gegensatz zu ihren vielen einzelnen Zeugnissen (die eine traditio im Gegensatz zu den vielen traditiones) gegenwärtig ist und jegliche Einzeltradition sich kritisch vor dieser einen Tradition, der "Selbstüberlieferung Gottes" durch Kreuz und Auferstehung Jesu Christi verantworten können muss.2

Wie der Autor des Lukasevangeliums können also auch wir kritisch und "sorgfältig" allem "von Grund auf" nachgehen, was als kirchliche Tradition dargestellt wird und es an Jesu liebevoll-engagierter Auslieferung an uns Menschen messen.

Dieser Jesus selbst übrigens nimmt im weiteren Verlauf der Evangeliumslesung auch ein Stück biblischer Tradition auf und bezieht die Aussage aus dem Jesajabuch, dass ein Gesalbter Gottes dessen frohe Botschaft verkündet sowie ein Jahr der Barmherzigkeit und Gnade ausruft, auf sich.
So sagt er den Menschen die Gegenwart des göttlichen Heils zu:
"Was ihr gehört habt, passiert gerade jetzt. Bei euch." (Lk 4,21 nach der Bibel in leichter Sprache

Blüte des Gnadenjahres. Rixdorf, Berlin, 2014.

1   W. Kasper, Das Verhältnis von Schrift und Tradition. Eine pneumatologische Perspektive. In: W. Pannenberg / T. Schneider (Hgg.), Verbindliches Zeugnis I. Kanon – Schrift – Tradition. Freiburg i.Br., Göttingen 1992, 335-370; hier: 365.


2   Vgl. W. Kasper, Die Methoden der Dogmatik. Einheit und Vielheit. München 1967, 37ff.41f.45; sowie: H. Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte. München 2015, 199f.