Als Sozialwesen stehen wir Menschen
nicht nur in biologischer Beziehung zu unseren Vorfahren, sondern in
einer langen Reihe von Traditionen und Überlieferungen, die über
unsere persönlichen Herkünfte und Überzeugungen hinausgehen. Das
mögen wir im Einzelfall schätzen oder nicht, wir haben immerhin die
(relative) Freiheit, uns dazu zu verhalten.
Wenn in einigen Tagen zum Beispiel der
Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, kann uns dieses Gedenken
beunruhigen oder erschüttern oder aggressiv machen oder wir können
es als nicht zu uns gehörig abweisen – inwieweit wir mit einer
Reaktion der Sache und uns selbst gerecht werden, steht dann wiederum
verschiedenen Interpretationen und Werturteilen offen.
Das Evangelium des heutigen Sonntags
berichtet ebenso vom spezifischen Verhältnis, in das sich Menschen
zu einer vorgegebenen Tradition stellen.
So beginnt der Autor des
Lukasevangeliums sein Werk:
Altes und Sonne. An der Schäferei, Rüdersdorf, 2015. |
"Schon viele haben es
unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter
uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die
Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des
Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund
auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter
Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben." (Lk 1,1-3)
Der Autor will also klar machen, dass
er sich einerseits in eine Kontinuität mit den zuvor Schreibenden
stellt und sich bei seinem Vorgehen an sie halten möchte,
andererseits augenscheinlich die Notwendigkeit sieht, dass die Dinge
noch einmal richtig "sorgfältig" und "von
Grund auf" dargestellt werden.
So weit, so ähnlich zu Auslegungs- und
Tradierungsprozessen in anderen Kontexten, die ebenfalls anschließen
an schon Gesagtes und sich zugleich durch Stil oder Gattung oder noch
anders davon abheben wollen.
Den biblischen Texten sprechen nun aber
Christen auf der ganzen Welt eine besondere Bedeutung zu, mit dem
Zweiten Vatikanischen Konzil: sie "ist Gottes Rede, insofern
sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet
wurde" (DV 9). In den Evangelien, die "zuverlässig
überliefern, was Jesus, der Sohn Gottes, in seinem Leben unter den
Menschen zu deren ewigem Heil wirklich getan und gelehrt hat"
(DV 19) wird so das Wort Gottes in besonderer Weise bezeugt.
Diese besondere Bedeutung der Heiligen
Schrift und besonders der Evangelien ist nichts, das sich aus ihrem
Inhalt oder ihrer Form oder ihrer Sprache ergibt, sondern etwas, das
nur im Heiligen Geist und im Glauben erfahren werden kann.
Denn wer gläubig darauf vertraut, dass
Gott selbst sich in den Worten der Schrift aussagen wollte und sich
auf diese Weise den Menschen überliefert, der kann Gottes Gegenwart
bei der Lektüre und Anwendung der Schrift erfahren. So ging es dem
aus der Verbannung heimgekehrten Volk Israel, als ihnen das Gesetz
Gottes vorgelesen wurde, wie es in der Lesung (Neh 8) heißt: Dort
las man "aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor
und gab dazu Erklärungen, so dass die Leute das Vorgelesene
verstehen konnten" (v8) und dabei begannen zu weinen. (v9)
Tradiertes Kreuz. Grabeskirche, Jerusalem, 2013. |
Die Überzeugung, dass es Gottes
Gegenwart ist, die in der Heiligen Schrift, in den Sakramenten, in
der gemeinsamen Feier des Gottesdienstes und letztlich in der ganzen
Tradition der Kirche zum Tragen kommt, gründet sich auf den Glauben
daran, dass schon die Menschwerdung eine Art "Überlieferung"
(traditio) an die Menschen ist und viel mehr noch die "Auslieferung"
(traditio) Jesu in Kreuz und Tod an den Urgrund dessen erinnert, was
kirchliche "Tradition" eigentlich bedeutet. Dies
nämlich, dass Gott selbst Ursache, wirklicher Träger, wahrer Inhalt
und letztes Ziel jeder Tradition ist, ja dass es in der Tradition der
Kirche im eigentlichen Sinne "Selbstüberlieferung Gottes
durch Jesus Christus im Heiligen Geist zu je neuer Gegenwart"1
ist.
Das meint selbstverständlich nicht,
dass jegliche kirchliche Tradition sakrosankt und direkt auf die
Gegenwart Gottes bezogen wäre, wohl aber, dass Gott im Gesamt der
kirchlichen Tradition im Gegensatz zu ihren vielen einzelnen
Zeugnissen (die eine traditio im Gegensatz zu den vielen
traditiones) gegenwärtig ist und jegliche Einzeltradition
sich kritisch vor dieser einen Tradition, der "Selbstüberlieferung
Gottes" durch Kreuz und Auferstehung Jesu Christi
verantworten können muss.2
Wie der Autor des Lukasevangeliums
können also auch wir kritisch und "sorgfältig"
allem "von Grund auf" nachgehen, was als kirchliche
Tradition dargestellt wird und es an Jesu liebevoll-engagierter
Auslieferung an uns Menschen messen.
Dieser Jesus selbst übrigens nimmt im
weiteren Verlauf der Evangeliumslesung auch ein Stück biblischer
Tradition auf und bezieht die Aussage aus dem Jesajabuch, dass ein
Gesalbter Gottes dessen frohe Botschaft verkündet sowie ein Jahr der
Barmherzigkeit und Gnade ausruft, auf sich.
So sagt er den Menschen die Gegenwart
des göttlichen Heils zu:
"Was ihr gehört habt, passiert
gerade jetzt. Bei euch." (Lk 4,21 nach der Bibel in leichter Sprache)
Blüte des Gnadenjahres. Rixdorf, Berlin, 2014. |
1 W.
Kasper, Das Verhältnis von Schrift und Tradition. Eine
pneumatologische Perspektive. In: W. Pannenberg / T. Schneider
(Hgg.), Verbindliches Zeugnis I. Kanon – Schrift – Tradition.
Freiburg i.Br., Göttingen 1992, 335-370; hier: 365.
2 Vgl.
W. Kasper, Die Methoden der Dogmatik. Einheit und Vielheit. München
1967, 37ff.41f.45; sowie: H. Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen
der Kirchengeschichte. München 2015, 199f.